Aus Basel I: Herzog & de Meuron und die Arbeitersiedlungen im Hirzbrunnen

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Im genauso sehens- wie lesenswerten Buch «Aus Basel» nehmen uns Jacques Herzog und Pierre de Meuron auf einen persönlichen, autobiografischen Streifzug durch ihre Heimatstadt mit. Sie zeigen uns die Orte und Bauten in Basel, die sie auf ihrem Weg inspiriert und begleitet haben. In einer fünfteiligen Serie stellen wir euch eine Auswahl dieser Bauwerke vor. Wir beginnen mit den Arbeitersiedlungen im Hirzbrunnen von Hans Bernoulli — später Artaria & Schmidt — und übergeben hiermit Jacques Herzog das Wort:

«Die Arbeitersiedlungen wurden ab den Zwanzigerjahren im Osten und Westen der Stadt gebaut. Als Kinder kannten wir sie nicht, das waren keine Orte, an denen man sich aufhielt. Erst an der Hochschule für Architektur hörten wir von diesen Siedlungen, die zu den ersten Projekten dieser Art in Europa zählen. Die Siedlungen wurden auf der grünen Wiese gebaut; außen herum war nichts. Dennoch bildeten sie einen Teil der Stadt. Sie bildeten einen neuen Typus von Stadtquartieren: zugleich ländlich und urban. Heute sind sie in die Agglomeration eingebunden, die meisten jedoch bewahren ihre Identität.»
(J.H., September 2014)

Siedulung Vogelsang von Hans Bernoulli © Schweizerische Bauzeitung

«Im Kleinbasel, aber jenseits der deutschen Bahngleise, befindet sich im Hirzbrunnen-Quartier die von Hans Bernoulli im Jahr 1926 gebaute Siedlung. Es ist ein gefragter Ort. Nicht allzu teuer, auch nicht sehr groß. Die Proportionen sind schön; hinter den Häusern befinden sich Gärten. In den Zwanzigerjahren wirkten in Basel drei herausragende moderne Architektenpersönlichkeiten: Hans Bernoulli (1876-1959), Hannes Meyer (1889-1954) und Hans Schmidt (1893-1972). Alle drei widmeten sich dem sozialen Wohnungs- und Siedlungsbau. Hannes Meyer machte in den  Jahren 1919 bis 1921 den Anfang mit der  Siedlung Freidorf, die zu einem Modell  für die internationale Genossenschaftsbewegung wurde. Die mitten auf dem Land, in Muttenz, im Südosten der Stadt gebaute Siedlung ist heute in das urbane Geflecht nahe dem St. Jakob-Stadion eingebunden.

«Die Gartenstadt Im Vogelsang ist eine
Genossenschaftssiedlung: Man ist Besitzer, aber

auch Teil einer Gemeinschaft.»

Hans Bernoulli war Sozialist. Er verfasste Abhandlungen über das Bau- und Bodenrecht. Er vertrat die Auffassung, dass der Boden als begrenzte Ressource der Gemeinschaft gehören sollte, dem Staat, und dass nur die Gebäude in privatem Besitz sein dürften. Damit fand er zwar kein Gehör, wurde aber dennoch in  den Nationalrat gewählt und wurde  Professor an der ETH. Politisch stand er sehr weit links, was schließlich auch  dazu führte, dass er seine Professur wieder verlor. Die Gartenstadt Im Vogelsang ist eine Genossenschaftssiedlung: Man ist Besitzer, aber auch Teil einer Gemeinschaft. Dank eines strikten Reglements wurden im Laufe ihres neunzigjährigen Bestehens nur sehr wenige bauliche Veränderungen vorgenommen. Von einer Isolierung der Ziegelwände, wie sie eine Zeit lang vorgesehen war, wurde glücklicherweise abgesehen.»

Genossenschaft im Vogelsang von Hans Bernoulli © P.Lutz / Architektur Basel

«Die Originalfarben wurden beibehalten: Haustüren sind durchgehend rot, Fensterrahmen weiß gestrichen. Einzig die in die markanten Ziegelflächen eingefügten Dachflächenfenster fallen negativ auf. Sie bringen zwar zusätzliches Licht ins Innere, stören aber den Blick von außen. Das Ensemble zeichnet sich aus durch die systematische Verwendung von Sichtmauerwerk, was ihm eine für Schweizer Verhältnisse ungewöhnliche Geschlossenheit und charakteristische Ausdruckskraft verleiht. Man fühlt sich mitten in das Umfeld eines Londoner Vorortes versetzt. Die Farbkontinuität der rötlichen Fassaden sowie der Ziegel der Satteldächer trägt zur monolithischen und monochromen Wirkung des Gesamtensembles bei. Die kupfernen Dachrinnen, die im kurzen Vordach beinahe verschwinden, verstärken diesen Aspekt. Das Quartier funktioniert wie ein Mikrokosmos, mit kleinen Wohnungen und angrenzenden Gärten. Die Lebensqualität ist überdurchschnittlich hoch, weswegen es sich nach wie vor großer Beliebtheit erfreut.»
(P.d.M., Februar 2011)

Die flachen Dächer der avantgardistischen WOBA-Siedlung 1930 © Quelle gta Archiv, ETH Zürich

«Nur 500 Meter entfernt von Bernoullis  Siedlungen, ebenfalls entlang der  Schienenwege, hat Hans Schmidt  zusammen mit Paul Artaria und August Künzel die ersten Gebäude mit Flachdach in Basel gebaut: zunächst die Wohnkolonie Schorenmatten zwischen 1927  und 1929, dann gleich danach einen Teil der Siedlung Eglisee im Rahmen der Wohnausstellung Basel (1929-1930), eine Ausstellung von avantgardistischen  Wohnprototypen im Echtmaßstab, vergleichbar mit anderen Werkbundsiedlungen in Stuttgart, Wien oder Zürich.  Als Studenten haben uns diese Architekturen stark beeindruckt.

«Zu der damaligen Zeit wurde ein
abstraktes, radikal innovatives Haus von der Linken
und der Avantgarde bejubelt.»

Wir hatten eine  Führung für die Seminargruppe Aldo Rossis ausgearbeitet und stellten die Broschüre Neues Bauen mit verschiedenen Typologien, Plänen und Zeitdokumenten zusammen. Hans Schmidt und  die Zeitschrift ABC [Zürich, 1924-1928]  waren als Bezugsgrößen für Rossi von zentraler Bedeutung. Heute fällt es allerdings schwer, für einen Teil der Siedlung Begeisterung aufzubringen, weil «In den Schorenmatten» vor rund fünfundzwanzig Jahren auf unverantwortliche Art saniert wurde. Eine echte Verschandelung! Kaum ein Detail entspricht noch dem Originalzustand. Da die Gebäude nicht unter Schutz standen, hat die Denkmalbehörde leider nicht intervenieren können. Schade! Es ist noch nicht lange her, da wurde den  Architekturen der Moderne kaum die  notwendige Anerkennung beigemessen. Glücklicherweise ist der größte Teil — vermutlich unter dem Schutz der Genossenschaftsreglemente — im Originalzustand  erhalten geblieben. » (P.d.M., Februar 2011)

Impressionen von der WOBA 1930 und Siedlung Schorenmatten, 1929 © Quelle gta Archiv, ETH Zürich

Die «Sanierung» hat genau das zerstört, was sich von der aktuellen baulichen Banalität abhob. Zu der damaligen Zeit wurde ein abstraktes, radikal innovatives Haus von der Linken und der Avantgarde bejubelt. Durch den Verlust an Radikalität und einstiger formaler Klarheit wurde der Modernismus banaler. Bevor die  Bauelemente in Serie produziert wurden, entwarfen die Architekten reduzierte Details: Verputz, Fensterprofile, Zargen. Wenn Du das zerstörst, zerstörst Du alles. Renovieren kommt teuer zu stehen. Die Merkmale zu definieren, die erhalten bleiben müssen, obliegt politischer Entscheidung: Kann eine Volkswohnung historische Qualität besitzen?»
(J.H., Februar 2011)


Chevrier, Jean-François

Aus Basel – Herzog & de Meuron

256 Seiten / 50 Abb. / gebunden
Sprache: Deutsch / Englisch / Französisch
© 2016 Birkhäuser Verlag, Basel
CHF 70 / EUR 50
Aus Basel: ISBN 978-3-0356-0813-7
From Basel: ISBN 978-3-0356-0814-4
De Bâle: ISBN 978-3-0356-0830-4

Bestellen / Infos > www.degruyter.com

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