Seit über 25 Jahren erforscht Olafur Eliasson in seinem Werk Fragen der Wahrnehmung, Bewegung, Körpererfahrung und Selbstempfindung. Für ihn ist Kunst ein entscheidendes Mittel, um vom Denken zum Handeln zu gelangen. Eliassons breiter Praxis – Skulptur, Malerei, Fotografie, Film und Installationen – wurden weltweit zahlreiche Ausstellungen gewidmet. Über Museen und Galerien hinaus wendet sich seine künstlerische Arbeit auch an eine breitere Öffentlichkeit, etwa durch architektonische Projekte und Interventionen im öffentlichen Raum. Durch den Einbezug einer Vielzahl von Perspektiven – menschlichen ebenso wie nicht-menschlichen – lädt Eliassons Kunst dazu ein, zukünftige Formen der Koexistenz zu erarbeiten. Für seine Einzelausstellung an der Fondation Beyeler verwandelt der Künstler das Museum für eine immersive und grenzüberschreitende Erkundung unserer Vorstellungen von Natur und Kultur. Olafur Eliasson erzählt uns im folgenden, sehr persönlichen Text über seinen Intentionen zur Ausstellung «Life», die ab sofort in Riehen besucht werden kann.
Ich habe im Laufe der Jahre mehr und mehr Interesse dafür entwickelt, das Leben nicht aus einer menschenzentrierten, sondern aus einer breit angelegten, biozentrischen Perspektive zu betrachten. Beispielsweise habe ich mich dabei beobachtet, wie ich Substantive in Verben verwandle. Wenn ich durch meine Ausstellung gehe, versuche ich zum Beispiel zu baumen, um mir Perspektiven bewusst zu machen, die über das hinausgehen, was wir Menschen uns eigentlich vorstellen können. Wie bei allen Säugetieren ist auch das Leben des Menschen vom Ein–und Ausatmen abhängig, vom Sauerstoff, den wir aufnehmen. In Anlehnung an die Anthropologin Natasha Myers und den Anthropologen Timothy Choywürde ich sagen, dass es im Leben auch um Konspiration geht – eine Anspielung sowohl auf die Etymologie des Wortes (vom Lateinischen conspirare= zusammenwirken, harmonieren, sich verschwören) als auch auf seine Definition im Wörterbuch. Wir „konspirieren“ mit einem Baum, mit Mitmenschen und mit unserem Planeten.
«Ich wollte nicht nur eine Tür öffnen, sondern die strukturellen Grenzen sprengen, die das Draussen vom Drinnen trennen. Deshalb bin ich der Fondation Beyeler und dem Museumsarchitekten Renzo Piano dankbar für die Erlaubnis, die Glasfassade des Gebäudes vorsichtig und behutsam entfernen lassen zu dürfen.»
Wenn wir erkennen, dass unser Leben untrennbar mit unserer Umgebung verwoben ist, sowie mit Strukturen und Systemen, die weit über unseren lokalen Kontext hinausreichen, wird uns meiner Meinung nach bewusst, dass wir alle verletzlich sind und nicht alles unter Kontrolle haben. Wir handeln und interagieren in Situationen, die von Unsicherheit und ungewissen Ergebnissen geprägt sind. Mit den Worten der Anthropologin Anna L. Tsing: „Prekär leben zu müssen, schien einst das Schicksal von den vom Glück weniger Begünstigten zu sein. Heute sieht alles danach aus, dass sich keiner mehr in völliger Sicherheit wiegen kann – selbst wenn im Moment unsere Taschen noch prall gefüllt sind.“
Life, mein Kunstwerk, und die Fondation Beyeler sind mit dem umliegenden Park, der Stadtlandschaft, ja dem ganzen Planeten verwoben, und sie werden durch alles und alle, die hier aufeinandertreffen, zum Leben erweckt. Schon seit dem Beginn meiner künstlerischen Arbeit in den frühen 1990er Jahren interessiere ich mich für die Wahrnehmung sowie für die kognitiven und kulturellen Bedingungen, durch die diese gestaltet wird. Life wird durch die aktive Begegnung mit dem Werk zum Leben erweckt, durch Ihre Wahrnehmung. Ich habe mich entschieden, keinen didaktischen oder erklärenden Text zum Kunstwerk anzubieten, da dies die Wahrnehmung und das Verständnis der Ausstellungsbesuchenden beeinflussen könnte. Es ist mir wichtig, keine von mir vorgefertigten Ansichten über Life zu vermitteln. Einige meiner Gedanken über die Entstehung des künstlerischen Werks und seines Weiterlebens, sowie meine Inspirationsquellen für die Arbeit, finden sich jedoch hier – im vorliegenden Text – wieder. Und gleichzeitig begrüsseich alles, was die Besuchenden einbringen: ihre Erwartungen und Erinnerungen, ihre Gedanken und Gefühle. Lifepräsentiert ein Modell für eine Landschaft der Zukunft, das gastfreudlich ist. Als Sam Keller, der Direktor der Fondation Beyeler, und ich vor ein paar Jahren das erste Mal über die Ausstellung sprachen, dachte ich: Warum laden wir nicht alle ein? Lasst uns den Planeten einladen – Pflanzen und andere Lebewesen. Ich wollte nicht nur eine Tür öffnen, sondern die strukturellen Grenzen sprengen, die das Draussen vom Drinnen trennen. Deshalb bin ich der Fondation Beyeler und dem Museumsarchitekten Renzo Piano dankbar für die Erlaubnis, die Glasfassade des Gebäudes vorsichtig und behutsam entfernen lassen zu dürfen.
Das Museum und ich geben sozusagen gemeinsam die Kontrolle über das Kunstwerk ab, wir überantworten es nicht nur den menschlichen, sondern ebenso den nicht-menschlichen Besuchenden, den Pflanzen, den Mikroorganismen, dem Wetter, dem Klima – einer Vielzahl Elemente, die ein Museum normalerweise fernzuhalten versucht. Wir hingegen wollen alle und alles willkommen heissen.
«Es ist mir wichtig, keine von mir vorgefertigten Ansichten über Life zu vermitteln. Life wird durch die aktive Begegnung mit dem Werk zum Leben erweckt, durch Ihre Wahrnehmung.»
Es interessiert mich, wie wir von unsere Sinnen Gebrauch machen, wie wir unser Bewusstsein einsetzen. Und was passiert, wenn unsere Gefühle abstumpfen? Meine gute Freundin, die Kognitionswissenschaftlerin und Dichterin Pireeni Sundaralingam, erforscht, wie digitale Umgebungen oft als Systeme konstruiert werden, die Aufmerksamkeit binden, die neurologischen Stress aufbauen und bedrohungsbasierte Verhaltensmuster generieren. Sie argumentiert, dass die Entwicklung des Gehirns in den Bereichen Wachstum, Kreativität, Innovation und Widerstandsfähigkeit durch eine vielschichtige sensorische Umgebung sowie durch digitale oder physische Räume, in denen Unbestimmtheit anstatt Bedrohung herrscht, positiv beeinflusst wird. Ich hoffe, dass Life die Besuchenden dazu ermutigt, sich in einer ausgedehnten, offenen Landschaft, die Unsicherheiten und Unwägbarkeiten zulässt, zu erfahren, nie allein, nie völlig getrennt, sondern als vielschichtige Wesen, die stets in grössere, unbändige Ökologieneingebunden sind. Life bietet den Besuchenden die Möglichkeit, alle ihre Sinne zu aktivieren. Durch die Gerüche der Pflanzen und des Wassers, die Geräusche der Umgebung, die Feuchtigkeit in der Luft werden die Besuchenden immer wieder angeregt, mehr als nur den Sehsinn zu benutzen, um das Kunstwerk zu erkunden. Die Ausstellung lädt zu einer „Panorama–Wahrnehmung“ innerhalb der Landschaft ein. Es wird suggeriert, dass das, was sich hinter, neben oder über befindet, genauso wichtig ist wie das, was räumlich oder zeitlich direkt vor uns liegt. Kürzlich habe ich die Anthropologin und Tänzerin Natasha Myers kennengelernt, die dazu einlädt, unsere Sinne – wie sie es nennt – zu „vegetalisieren“, um so das Potenzial der Beziehungen zwischen Pflanzen und Menschen zu erfassen. In einem Essay stellt Myers die Frage: Was wollen Pflanzen? Was wissen Pflanzen? Was können Pflanzen? Wir wissen es noch nicht. Aber man könnte mit der Offenheit des Nichtwissens auf sie zugehen und all das vergessen, was man als Wissen eingestuft hatte.
Life erweckt den Eindruck, als hätte die Natur die Fondation Beyeler übernommen, doch gleichzeitig wird deutlich, dass die Ausstellung Erfahrungen bietet, die zutiefst gestaltet sind. Das leuchtend grüne Wasser, das den grösstenTeil des Raumes einnimmt, wurde mit Uranin angereichert, einem ungiftigen Farbstoff, der zur Untersuchung von Wasserströmungen dient. Ich habe ihn hier verwendet, um die Präsenz des Wassers explizit hervorzuheben. Die Pflanzen in Life – Zwergseerosen, Muschelblumen, Wasserfarne und viele andere – hat mein Freund, der Landschaftsarchitekt Günther Vogt, sorgfältig ausgewählt. Günther und ich haben in der Vergangenheit an mehreren Kunstwerken zusammengearbeitet, die sich mit den durchlässigen Grenzen zwischen Natur und Kultur auseinandersetzten. Dabei ist uns bewusst geworden, dass wir Menschen Teil von grösseren Systemen sind.
«Ich hoffe, dass Life die Besuchenden dazu ermutigt, sich in einer ausgedehnten, offenen Landschaft, die Unsicherheiten und Unwägbarkeiten zulässt, zu erfahren, nie allein, nie völlig getrennt, sondern als vielschichtige Wesen, die stets in grössere, unbändige Ökologien eingebunden sind.»
Für mich stellt Life eine Natur–Kultur–Landschaft dar. NatureCulture ist ein Begriff, der von der Feministin, Wissenschaftlerin und Autorin Donna J. Haraway geprägt wurde, und ich denke, wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir endlich erkennen, dass Kultur und Natur untrennbar miteinander verbunden sind – und das defacto schon immer waren. In unserem Teil der Welt dachten wir früher, dass Menschen eine Vorrangstellung haben. Es galt als Erfolg, sich über die Natur zu stellen, über sie Macht auszuüben und die Erde nach unserem Belieben zu nutzen und zu formen. Jetzt müssen wir verinnerlichen, weniger aussergewöhnlich zu sein als gedacht. Wir müssen anderen Raum geben.
Ich möchte nahelegen, dass auch unser Zeitempfinden Teil des Kunstwerks ist. Ich sehe ein gewisses Potenzial darin, „Zeit zu öffnen“, ihre Gegenwart nicht als standardisierte Masseinheit, sondern als gelebte, gefühlte Empfindung spürbar zu machen, die untrennbar mit Erfahrung verknüpft ist. Die Neurobiologin Anna Wirz–Justice hat erstaunliche Erkenntnisse im Bereich der Chronobiologie gewonnen, etwa zu unseren Tagesrhythmen – den sogenannten zirkadianen Rhythmen – und dazu, wie sie das menschliche Verhalten und die Physiologie prägen. Diese Rhythmen beeinflussen auch die meisten anderen lebenden Organismen – von den kleinsten Bakterien, Pilzen und Pflanzen bis hin zu Fliegen, Fischen und Säugetieren. Sie alle haben diese äusseren, geophysikalischen Rhythmen verinnerlicht und besitzen einen bemerkenswert ähnlichen Satz von „Uhrgenen“, die einen internen Zyklus von etwa 24 Stunden in Gang setzen. Life löst sich vom menschlichen Zeitempfinden: Es gibt kein festes Eröffnungs– oder Enddatum. Stattdessen nimmt die Ausstellung im April schrittweise Form an, im Juli wird sie langsam verschwinden. Auf diese Weise werden Auf– und Abbau von Lifezum integralen Bestandteil des Kunstwerks, den die Besuchenden vom Park der Fondation Beyeler aus mitverfolgen können.
Life befindet sich in ständigem Wandel. Menschen und andere Lebewesen können diese Veränderungen zu jeder Tages– und Nachtzeit erleben, denn es gibt keine regulären Öffnungszeiten für die Ausstellung, sie ist rund um die Uhr zugänglich. Selbst wenn sich keine menschlichen Besuchende im Raum aufhalten, können andere Lebewesen – zum Beispiel Insekten, Fledermäuse oder Vögel – hindurchfliegen oder einen Moment lang darin verweilen. Nachts beginnt Life zu leuchten – überzeugen Sie sich selbst davon.
Ich war schon immer der Meinung, dass Kunst Wirksamkeit hat – nicht als intrinsischen Wert oder essentiellen Kern, sondern als ein In–und–mit–der–Welt–Sein – ebenso wie die Besuchenden Wirksamkeit haben, wenn sie dem Kunstwerk begegnen. Beide sind natürlich eingebunden in einem Ort, in eine Welt – die Wirksamkeit des Werks und der Betrachtenden sind Teil grösserer Netzwerke. Die Frage ist dann, was bei diesem Zusammentreffen von Werk, Besuchenden und Welt passiert. Bewegt das Kunstwerk den Betrachter? Bewegen die Betrachter das Kunstwerk in ihr ,Hier und Jetzt‘ – in den Moment und die Welt, in sich die Begegnung ereignet? Ich glaube, alle sind potenzielle Bewegende, und alle können ihrerseits bewegt werden.
Ich lade Sie ein, die Ausstellung selbst zu entdecken. Können Sie die Fondation Beyeler nicht persönlich besuchen, lässt sich die Ausstellung auch zu jeder Tages–und Nachtzeit auf der Website verfolgen, abwechselnd aus menschlicher und nicht–menschlicher Perspektive.
Text: Olafur Eliasson
INFO
Olafur Eliasson: «Life»
18. April – 11. Juli 2021
Fondation Beyeler, Riehen