«Die Aufforderung an die Teilnehmer war daher dreifach: Bringen Sie Ihr authentisches Selbst mit, befreit von Erwartungen, beruflichen Sitten und Masken. Gestalten Sie Ihre Arbeit im Sinne der beiden Leitprinzipien: Dekolonisierung und Dekarbonisierung», mit diesen Wörtern beschreibt die Kuratorin Lesley Lokko die Idee der Architekturbiennale 2023. In ihrer Karriere unterrichtet und forscht sie über Architektur – und schreibt gleichzeitig Science-Fiction-Novellen. Sie hat mit ihrem «African Future Institute» bestehend aus drei Teams mit achtzehn Kurator:innen die Biennale vorbereitet. Erfeut haben wir erfahren, dass über die Hälfte der Teilnehmer aus Afrika oder der afrikanischen Diaspora stammen und das das Geschlechterverhältnis ausgeglichen ist. Wir haben für euch bei der wichtigsten Architekturausstellung des Jahres vorbeigeschaut.
Schweizer Pavillon
Die Intervention bezieht sich auf dem ursprünglichen Pavillon Entwurf von Bruno Giacometti. Die trennende Wand zwischen dem venezolanischen und dem schweizerischen Pavillon wurde wieder entfernt. Mit den Backsteinen der Mauer wurden zwei Sitzbänke im Innenhof um den Stumpf der abgestorbenen Platanen gebaut. Karin Sander und Philip Ursprung erklärten ihren minimalistischen Eingriff mit dem Willen, auf die zufällige Nachbarschaft der Pavillons aufmerksam zu machen. In einem für den Anlass geschriebenen Buch personifiziert Philip Ursprung die zwei Nachbargebäude und lässt sie in einem Dialog zusammen sprechen – leider nur in der Theorie. Wir hätten uns gewünscht, auch in der Praxis einen Austausch mit der Nachbarschaft zu sehen. Der zweite Beitrag ist ein raumfüllender weisser Teppich mit dem originalen Grundriss der zwei Nachbargebäude. Dahinter steckt ein grosser Aufwand: Den Teppich produzieren, nach Venedig liefern und am Ende in einem Lager zurück transportieren und aufbewahren. Wir stellen die kritischen Fragen, wie die Kuratoren das Thema des Jahres aufgefasst haben und die Jury sich dafür entschieden hat. Wir bleiben ratlos.
Österreichischer Pavillon
Könnte das angrenzende Quartier Sant’ Elena und die lokale Bevölkerung in die Biennale integriert werden? Mit diesem Willen versuchte das Kollektiv AKT in Zusammenarbeit mit Altmeister Hermann Czech die eine Hälfte des Pavillons von der anderer Mauerseite her zu erschliessen. Ursprünglich waren die Gardini ein öffentlicher Park. Heute handelt sich um einen exklusiven, nur während der Biennale zugänglichen Ort. Die restlichen sechs Monaten bleibt er geschlossen. Trotz einer umfangreichen Analyse der Giardini und ihrer Umgebung, die im ersten Raum präsentiert wird, hat die Denkmalpflege und die Biennale verschiedene Lösungsvorschläge für einen neuen Zugang verhindert. Im zweiten Raum werden diese Projekte ausgestellt. Die Absage war so abrupt, dass jetzt nach den Worten von Hermann Czech: «der Stillstand der Baustelle» besucht werden kann. Das Kollektiv erreicht damit, einen essenzieller Systemfehler auszustellen. Dem gebührt Respekt. Trotz der Niederlage verfolgen die Österreicher das Thema weiter. Es werden regelmässige Veranstaltungen organisiert, die zusammen mit der Bevölkerung aus Sant’ Elena stattfinden.
Kanadischer Pavillon
Die Entstehung der Ausstellung mit dem Namen «Not for sale!» ist eine Kooperation von Kommunen, Minderheiten und Studierenden. Diese bekommen mit dem Pavillon ein Sprachrohr, um ihre Anliegen in die Welt herauszutragen. Die Themen sind nicht nur in Kanada von Relevanz, sondern sprechen uns alle an. Es geht um das Recht auf Boden, Recht auf bezahlbarem Wohnraum, inklusive Freiräume und das Bekämpfen der Gentrifizierung. «Wir glauben, dass die Wurzeln der Wohnungskrise in der kapitalistischen und kolonialistischen Enteignung von Menschen von ihrem Land und ihren Häusern liegen. In Kanada begann dies mit der Aneignung von Land von indigenen Völkern und der Verwandlung von Häusern in Waren, in Objekte der Immobilienspekulation und nicht in Orte, die durch tiefe gemeinschaftliche und kulturelle Bindungen definiert sind», äussert sich das AAHA-Kollektiv klar. Im Obergeschoss findet dann konkrete Aneignung statt: Der Raum steht den Austauschstudierenden aus Kanada mit den venezianischen Universität als Arbeitsplatz zur Verfügung.
Deutscher Pavillon
«Wegen Umbau geöffnet» ist die Intervention von Arch+, Summacumfemmer und Büro Juliane Greb. Eine neue architektonische Vorgehensweise wird vorgestellt. Sie thematisieren Hausbesetzungen als wichtige Bewegung. Insbesondere die Szene in Berlin konnte während den 1980-Jahren, mit geringem Unterhalt und Wiederverwendung viele Bausubstanz erhalten. Die Umsetzung der Installation ist einfach. Die Kunstintervention vom letzten Jahr «Relocating a Structure» von Maria Eichhorn wurde belassen. Alle genutzten Materialien der Kunstbiennale wurden gesammelt, inventarisiert, sind im Pavillon gelagert und stehen zur Verfügung. Der Pavillon verwandelt sich in einer Werkstatt. Lokale, aktivistische Gruppen und Studenten aus deutschen Universitäten werden sich an Workshops beteiligen, um Nachbesserungen und Reparaturen mit den gefundenen Materialien in Venedig vorzunehmen. Im Pavillon stehen verschiedene Räume zur Verfügung: Werkstatt, Materialdepot, Versammlungsraum, Teeküche und Waschraum mit einer öffentlichen Trockentoilette. Um die schweren Gegenstände in und aus dem Pavillon zu transportieren und die Ausstellung für alle zugänglich zu machen, wurde eine neue Rampe gebaut.
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Packende Filmsequenzen über Minderheitsgruppen in England werden im britischen Pavillon projiziert. Die Szenen zeigen, wie Bräuche und Traditionen den öffentlichen Raum prägen. Der japanische Pavillon beschäftigt sich mit seiner unmittelbaren Umgebung. Im Erdgeschoss werden gesammelten Materialien aus dem Gardini destilliert dazu gehört ein Dampfbad und die Schnapsbrennanlage. An den fertigen Laub-Holz-Früchte-Schnäpsen kann auch gerochen werden.
Die Brasilianer zeigen unsere wichtigste Lebensgrundlage, die Erde. Der Ausstellungstitel lautet schlicht «Terra». Die ganzen Böden und Ausstellungselemente wurden aus diesem Material gefertigt. Diese sind ein Gegensatz zur modernistischen Architektur des Pavillons. Thematisiert wird die Verdrängung der Einheimischen beim Bau der Hauptstadt Brasilia, genauso wie Projekte basierend auf dem afrobrasilianischen Wissen. Der Goldene Löwe für den besten Pavillon ging an Brasilien – und Grossbritannien erhielt eine Auszeichnung für die kuratorische Arbeit.
Zum Schluss haben wir einen kleinen Tipp für euch: Falls ihr eine Pause braucht und raus aus der Stadt möchtet, können wir euch die Ausstellung «BioGrounds» auf der Isola La Certosa, nur eine Bootsstation von den Giardini entfernt, empfehlen. Drei Installationen zwischen Kunst, Architektur, Landschaft, Philosophie und Botanik können auf einem Spaziergang besucht werden. Die Beteiligten sind unter anderem Beka & Lemoine, Studio Formafantasma mit Emanuele Coccia und Studio Ossidiana. Die Insel ist wild und unbewohnt. Der Weg führt durch unterschiedliche Vegetationstypen: Feuchtgebiete, Wiesen und Wäldern. Vorne an der Bootsstation wartet auf euch eine nette Bar für einen Trink. Salute! Der Besuch der Architektur Biennale 2023 lohnt sich allemal.
Text: Martin Zwahlen / Architektur Basel zusammen mit Kateřina Krupičková