Über die Transformation der Stadt Liestal rund um das Bahnhofsareal haben wir in einem früheren Artikel zum Neubau von Christ und Gantenbein berichtet. Raoul Rosenmund vom Verein liestal.orientiert hat uns auf die Folgen dieser grossen Überbauungen für die Stadt aufmerksam gemacht. Martin Zwahlen hat mit ihm gesprochen. Er wollte wissen, wie Rosenmund die Veränderungen seiner Stadt wahrnimmt.
Martin Zwahlen für Architektur Basel: Der Bahnhof wird erweitert und gewinnt an Bedeutung. Es entsteht ein neuer Anziehungsort für Liestal. Dabei wird das historische Zentrum konkurrenziert. Wo sehen Sie die Stärken der jeweiligen Orte?
Raoul Rosenmund: Die Stärke einer Altstadt liegt grundsätzlich in seiner lebendigen Dichte. Wer in einer Altstadt wohnt, hat meist keinen Balkon, keinen Garten, keine Einstellhalle. Aber in der Liestaler Altstadt Wohnende haben bisher alle Dienstleistungen mit bekanntem Personal in unmittelbarer Nachbarschaft – das Angebot eines Zentrums.
MZ: Und zum neuen Bahnhof?
RR: Das Bahnhofareal wird täglich von grossen Menschenmassen durchströmt, die neben dem Pendeln die notwendigen Einkäufe erledigen können. Der Bahnhof ist ein umtriebiger, aber anonymer Ort. Das Angebot wird hauptsächlich aus den überall gleichen Laden- und Restaurantketten mit ständig wechselndem Personal bestehen.
MZ: Was werden Ihrer Meinung nach die Auswirkungen und Veränderungen dieser zwei Zentren auf das Stadtbild sein?
RR: Mit dem geplanten, deutlich zu hohem Postgebäude wird die Sicht auf die Altstadt verdeckt. Eine Qualität, die selbst in den dafür unsensiblen 1960er-Jahren respektiert und reglementarisch festgehalten wurde. Auch nimmt das Postgebäude zu wenig Rücksicht auf die kantonal geschützten Nachbargebäude Palazzo und Kantonsgericht.
Zusätzlich zur marginalisierten Wahrnehmung des Altstadtzentrums wird dessen Alltagstauglichkeit geschwächt. Schritt für Schritt sollen alle Autos auch aus den Seitenstrassen der Innenstadt verbannt werden. In der Altstadt Wohnende verlieren die notwendigen Läden und Dienstleistungen, die sie dann ausserhalb aufsuchen müssen. Die wichtigste Stärke wird dem Freizeittourismus geopfert: die Zentrumsleistungen und der gute Alltag.
MZ: Liestal ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Ein guter Anschluss an den Bahnhof ist für Bewohner:innen wie auch Anreisende von ausserhalb wichtig. Zurzeit ist der Anschluss von der Altstadt her durch die topografischen Bedingungen jedoch erschwert. Was schlagen Sie als Lösung vor?
RR: Die Stadt soll im realen und übertragenen Sinn eine (Fussgänger-)Brücke zwischen den zwei Zentren bauen. Der neue Schwerpunkt des Liestaler Bahnhofs wird weit in Richtung Basel verschoben. Die Pendler werden bis zur Altstadt eine grössere Strecke zurücklegen müssen, der Umweg durch den Graben der Allee ist umständlich und Liestal hat zu wenig Masse, um auf das Gewusel aller Verkehrsarten zu verzichten. Liestal soll nicht in Schönheit untergehen, sondern mit dem identitätsstiftenden Durcheinander lebendig bleiben. Die Brücke erhöht die Qualität beider Zentren.
MZ: Zwischen dem Bahnhof und dem Stedtli im ehemaligen Stadtgraben soll ein neuer Freiraum entstehen. Das Alleeprojekt mit den bestehenden schattenspendenden Bäumen und einem Zugang zum Wasser. Wie schätzen Sie diese Veränderung ein?
RR: Grundsätzlich sind wir nicht gegen ein Alleeprojekt. Aber es muss nicht jede Ecke aufgehübscht werden. Informelle, gewachsene Teile sind ebenso wichtig. Zudem ist Liestal von Grünraum umgeben, der innert Minuten von jedem Punkt aus erreichbar ist: in der ländlichen Stadt liegt der grosse Park aussen! Die Parkplätze sollen nicht weichen. Sie bieten nebst aller Schönheit das lebendige Durcheinander, das der Erhaltung der Läden dient.
MZ: Auch Liestal wächst in letzter Zeit rasant. Dabei ist die innere Verdichtung ein wichtiges Thema. Wo sollte und kann Ihrer Meinung nach in Liestal verdichtet werden?
RR: In Liestal sind nennenswerte Verdichtungen gebaut und weitere geplant. Eine Verdichtung rund um die Kernstadt begrüssen wir. Neben einer folgenschweren Schwachstelle – dem Ignorieren der Bahnhofstrasse – ist die Planung im Lüdinareal ein gutes Beispiel für eine starke Verdichtung zwischen Kernstadt und Bahnhof.
MZ: Auch in Basel erleben wir, wie sich Gebiete schnell entwickeln und stark transformiert werden. Meistens ist es schwierig, die lokale Bevölkerung zu animieren, Stellung zu beziehen. Wie stellen Sie sich vor, könnten die Bewohner:innen mehr in den Prozess einbezogen werden?
RR: Weil Liestal weniger Dichte aufweist als städtische Gebiete, ist die Stimmung vermutlich entspannter. Wenige wollen Stellung beziehen. Zunehmende Verflechtungen und Abhängigkeiten führen in eine Ohnmacht, der mit Handlungen begegnet wird, die selbst gesteuert werden können: Man regt sich nicht über die schlechte Zugänglichkeit der Innenstadt auf, wenn die Einkaufsorte und Dienstleistungen rund um Liestal gut erreichbar sind. Wir orientieren die Bevölkerung parteipolitisch ungebunden über die Mechanismen von Planung. Arbeitsteilung in einer deliberativen Demokratie funktioniert, wenn Behörden und Parteien die Quellen kennen, über welche sachliche Informationen erhältlich sind und wenn sie sich auf Diskussionen mit der Bevölkerung einlassen. Verweigert sich die Politik der Diskussion, reagiert die Bevölkerung nur im Extremfall mit Protest, sie weicht nach anderen Orten aus. Sachliche Auseinandersetzung kann das reduzieren.
Wir bedanken uns für den Austausch bei Raoul Rosenmund und dem Verein liestal.orientiert. Ihre Kenntnisse und Meinungen der lokalen Vorkommnisse und Gewohnheiten erlauben einen kritischen Blick auf die Entwicklung der Stadt Liestal.
Artikel: Martin Zwahlen / Architektur Basel