Das Porträt der Architektin Anna Jessen geht den Fragen nach, wie sich das Berufsbild der Architektur in den letzten Jahren verändert hat, wie sich der Beruf in Zukunft weiterentwickeln wird, und welche Herausforderungen sich für eine Frau in diesem noch immer eher männerdominierten Beruf stellen.
Berufseinstieg mit Handwerk
Anna Jessen begann ihre berufliche Karriere über das Handwerk der Schneiderin. Für ein Architekturstudium entschied sie sich wegen der breiten, geschichtlichen und soziologischen Ausbildung, und weil der Beruf sehr interdisziplinär angelegt ist. Das Studium nahm Anna Jessen in München auf, wechselte jedoch schon bald nach Zürich an die ETH. Während eines Austauschjahres an der Harvard University konnte sie Auslandserfahrungen sammeln. Sie studierte unter anderem bei Flora Ruchat, Ernst Studer, Hans Kollhoff und in den USA bei Peter Eisenman. Diese Personen haben sie, wie sie selber sagt, nachhaltig geprägt. Nach dem Abschluss des Studiums kam sie nach Basel, wo sie vier Jahre bei Diener & Diener Architekten arbeitete. Danach machte sie sich zusammen mit ihrem Partner Ingemar Vollenweider, den sie während eines Praktikums in Berlin kennengelernt hatte, selbstständig. Nebst dem Aufbau des eigenen Architekturbüros in Basel wirkte sich als Assistentin an der TU Dresden. Es war ihr wichtig, nach dem Studium möglichst vielfältige Erfahrungen zu sammeln und interessante Menschen zu treffen und begleiten zu können. Heute ist Anna Jessen neben ihrem eigenen Büro auch in der Lehre tätig: Sie leitet die ArchtekturWerkstatt der FHS St. Gallen und lehrt dort im Bereich Raum und Fügung. An der TU Dortmund führt sie gemeinsam mit Ingemar Vollenweider den Lehrstuhl Städtebau.
Den Entwurf nicht aus den Augen verlieren
Wie hat sich ihr Beruf in den letzten Jahren verändert? Er sei aufgrund der Digitalisierung um einiges schneller geworden, meint Anna Jessen. Heute zeichne man mit CAD mehr Varianten eines Projekts. Die Kunst sei es jedoch, daraus die eine richtige Variante auszusuchen. Zudem wurde der Beruf in den letzten Jahren viel spezialisierter: Von der Autorin des eigenen Entwurfs wird man immer mehr zur Moderatorin kollektiver Prozesse. In Zukunft, sagt Anna Jessen, lägen die Probleme vor allem in der zu wenig kritisch eingesetzten Digitalisierung, die in zu frühen Planungsphasen eine falsche Konkretheit suggerieren würde. Um entwerfen zu können, braucht es vage Skizzen, die erst langsam und in einem iterativen Prozess scharf werden können.
«Vermutlich haben Frauen mehr Freude daran, Leben einzurichten und möglich zu machen – ein Aspekt, der in der Architektur wieder mehr Gewicht entfalten sollte.»
Veränderungen nehmen, wie sie kommen
Die grössten beruflichen und privaten Veränderungen kamen bei Anna Jessen zusammen: Beinahe zeitgleich mit dem Gewinnen erster Wettbewerbe wurde sie Mutter. «In solchen Momenten denkt man nicht über Veränderungen nach. Sie passieren einfach», sagt sie heute. Letztlich sei man für die Aufgabe als Mutter nicht vorbereitet und habe jeden Tag neue Herausforderungen zu bewältigen. Da gibt es viele Parallelen zur Architektur, in der auch keine Aufgabe der vorherigen oder der nächsten gleicht.
Auf die Frage, wie es als Frau sei, in einem eher von Männern dominierten Berufsfeld zu arbeiten, antwortet Anna Jessen, sie habe nie gross darüber nachgedacht. Sie spüre manchmal, dass sie sich auf der Baustelle etwas einfacher durchsetzen könne, da sie als Frau gegen aussen weniger hart sein müsse. Allgemein aber falle ihr auf, dass die Männer wieder etwas weicher würden. Nicht in einem romantischen Sinn, vielmehr komme eine Generation nach, die nicht mehr darauf gedrillt sei, alles besser wissen zu müssen. Es gehe immer mehr darum zu wissen, wie man richtig fragt.
Lebenswerte Räume gestalten
Dieser Prozess laufe in der ganzen Gesellschaft, meint Anna Jessen. Den Unterschieden zwischen den Geschlechtern kann sie etwas Schönes abgewinnen: «Vermutlich haben Frauen mehr Freude daran, Leben einzurichten und möglich zu machen – ein Aspekt, der in der Architektur wieder mehr Gewicht entfalten sollte. Es kommt eine Zeit, in der all die Faktoren, die Leben möglich machen, wieder wichtiger werden.» Diese tendenziell eher weibliche Stärke können selbstverständlich auch Männern haben oder entwickeln. Das Entwerfen eines Grundrisses sei letztlich ein liebevoller, kreativer Akt. «Es geht nicht nur darum, die Normen einzuhalten, sondern lebenswerten Raum zu schaffen!»
Wunderbare Zufälle
Abschliessend streicht Anna Jessen die Bedeutung des öffentlichen Raums heraus: Als Architektin hänge sie sehr am öffentlichen Raum, besonders jetzt, zu Zeiten der Pandemie. Sie vermisst es, sich auf die Mauer der Basler Münsterpfalz zu setzen und sich selbst in Bezug zum öffentlichen Raum zu sehen. Denn gemäss Jessen funktioniert der öffentliche Raum, wenn man ihn mit anderen teilen kann. Wenn soziale Begegnungen im öffentlichen Raum über längere Zeit nicht mehr möglich seien, gehen auch die zufälligen Begegnungen verloren und man sei sich kaum bewusst, wie wichtig der wunderbare Zufall für unser Leben und für unser Zusammenleben sind.
Text: Benedikt Umbricht und Florian Meier
Dieser Text entstand am Institut Architektur FHNW im Frühlingssemester 2020, im Rahmen der Lehrveranstaltung in Sozialwissenschaften zum Thema «The Image of the Architect». Auf der Suche nach neuen Berufsbildern.