„Braucht es überhaupt noch Messehallen?»

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Gut Ding will Weile haben. Die eingefleischten HdM-Fans mussten sich in Geduld üben. Drei Jahre nach der vorzeitigen Veröffentlichung von Band 6 erschien nun endlich Band 5 des Gesamtwerks, worin das Schaffen zwischen 2002 und 2004 dokumentiert wird. Das 304 Seiten starke Buch dokumentiert 60 Projekte, umfasst rund 1000 Fotos, Skizzen und Pläne – darunter die Bauten 226 und 230, namentlich das Nationalstadium in Peking und die Elbphilharmonie in Hamburg. Letztgenannte und deren verzögerte Fertigstellung ist der Grund für die verspätete Publikation des Bands. Wir haben für euch einen Blick in das Buch aus dem Hause Birkhäuser geworfen.

Herzog & de Meuron 2002-2004, Band 5 © Birkhäuser, 2020

«… die umliegenden Bauten werden fast zu Spielzeugwürfeln»
Aus Basler Sicht löst Band 5 eine eigenartige Mischung aus wonniger Nostalgie und anachronistischer Irritation aus: Da ist der Neubau der Messe, der von einer Zeit der rücksichtslos-überschwänglichen Euphorie rund um die Baselworld erzählt, die inzwischen schonungslos von der Realität eingeholt wurde. Der Neubau war gleichbedeutend mit einem städtebaulichen Massstabssprung für das Kleinbasel – oder wie es Autor Gerhard Mack in der Einleitung formuliert: „Neben den neuen Hallen werden die umliegenden Bauten fast zu Spielzeugwürfeln.“ Städtebauliches Legospiel im Glaibasel. Mit genügend zeitlicher Distanz fragen die Architekten im 2020 verfassten Projektbeschrieb kritisch: „Braucht es überhaupt noch Messehallen? Und dazu noch so zentrale gelegene wie hier in Basel?“ Berechtigte Fragen. Wie man Herzog & de Meuron kennt, liefern sie die Antwort gleich selbst, indem sie laut über eine Umnutzung nachdenken: „Sie könnten dann – neu programmiert – erst recht zum eigentlichen Zentrum Kleinbasels werden.“ Wer die heutige Situation rund um den Messeplatz und die „City Lounge“ kennt, mag da leise Zweifel hegen, wobei natürlich zu hoffen ist, dass die Messehallen zu neuem Leben erweckt werden können. Die Dokumente zur Entwicklung der Fassade, die einem überdimensioniert skalierten Streckmetall nachempfunden ist, sind faszinierend. Ein Detail springt bei den Visualisierungen besonders ins Auge: Auf dem Dach war ursprünglich ein Fussballplatz mit saftig-grünem Rasen vorgesehen. Fussballverrückte Basler Architekten muss man sein!

Herzog & de Meuron 2002-2004, Band 5 © Birkhäuser, 2020

Waisch no damals im Schaulager
In die Kategorie „Waisch no?“ fällt Projekt Nr. 250: Die Ausstellung über das Schaffen von Herzog & de Meuron, die 2004 im Schaulager stattfand. Der Schreibende mag sich noch gut erinnern, wie er 15-jährig nach Münchenstein gepilgert ist – und von der geballten Ladung Modelle und Materialrecherchen überwältigt wurde. Es ging um „sinnliche Spuren“ die einen faszinierenden, nie dagewesenen „Blick in die Werkstatt und das Archiv“ der Architekten bot. Dass die Ausstellung in einem ihrer eigenen Gebäude befand, war für Herzog & de Meuron eine besondere Herausforderung und Chance zugleich, „sich jederzeit der Realität eines Gebäude vergewissern zu können, seine Präsenz und Verführungskraft ganz unmittelbar zu erleben», wie es Jacques Herzog beschreibt.

Herzog & de Meuron 2002-2004, Band 5 © Birkhäuser, 2020

Agglo und Stadt im Dialog
Das Buch umfasst neben der ausführlichen Dokumentation der vierzehn ausgewählten Projekte ein Kapitel mit grafisch einheitlich aufbereiteten Publikationsplänen in Schwarzweiss. Als dritter Teil folgt eine Auswahl von sechs Texten. Besonders lesenswert ist das fiktive Gespräch zwischen Agglo und Stadt, das von Jacques Herzog 2014 verfasst wurde. Sagte die Agglo zur Stadt: „Dann geht unsere Identität als Dorf verloren, und der Bezug zur Natur.“ Antwortet die Stadt: „Im Gegenteil: So entsteht erst Identität. Die städtischen Quartiere tragen Namen: St. Johann, Matthäus, Paulus.“ Der Dialog, der von ungebrochener Relevanz ist, mündet in der offenen Frage, „ob es der Schweiz gelingt, für das Problem der Zersiedelung und des Bevölkerungswachstums eine eigene, spezifische Lösung zu finden, einen neuen Föderalismus, der ohne Heimatparolen und Subventionen überleben kann.“ Den Texten folgt die Werkchronologie der Projekte Nummer 207 bis 266. Seinen runden Abschluss findet das Buch in einer Auswahl sehenswerter, grossformatiger Architekturfotografien. Darunter ist beispielsweise die Messehalle in einer Prüfungssituation mit unzähligen, akkurat gereihten Tischchen oder die Elbphilharmonie umgeben von winterlicher-gefrorener Landschaft.

Herzog & de Meuron 2002-2004, Band 5 © Birkhäuser, 2020

Fazit
Auf der nice to have-Skala schlägt der Zeiger vielleicht etwas näher zum «nice». Und dennoch: Wer fragt, ob es denn heute überhaupt noch Architekturbücher brauche, findet im fünften Band der HdM-Werkchronologie eine überzeugende Antwort: Ja, es braucht sie! Bei aller Liebe für das Internet; nirgendwo im Netz findet man die Bauten und Projekte in derart stimmiger Form zusammengefasst und grafisch überzeugend aufbereitet. Das Buch schenkt einen frischen Blick auf das Architekturschaffen der Grossmeister von der Rheinschanze 6 – das frische Gelb mit rosa Lettern des Umschlags verspricht nicht zu viel. 

Text: Lukas Gruntz / Architektur Basel


Herzog & de Meuron 2002-2004, Band 5
Gerhard Mack

Preis: CHF 163
ISBN: 978-3-0356-1005-5
Format: Fester Einband
Herausgeber: Birkhäuser Verlag
Anzahl Seiten: 304
Gewicht: 1702 g
Größe: H317mm x B26mm x T246mm
Jahr: 2020

 

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