„Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine grosse Sache“, schreibt Colin Rowe in Collage City. Er unterscheidet ArchitektInnen dementsprechend: Mies van der Rohe war ein Igel, Le Corbusier war ein Fuchs. Derartige Kategorisierungen laufen immer Gefahr, im Schematismus zu enden. Und dennoch gibt es bis heute ArchitektInnen, die sich mit jedem Entwurf neu erfinden – und genauso gibt es diejenigen, die mit Beharrlichkeit und Geduld über Projekte hinweg wenigen, gleichbleibenden Themen nachgehen.

Über Raum und Räume – Kammergrundrisse und Luca Selva Architekten © Park Books
Luca Selva der Fuchs
Was hat das mit Luca Selva Architekten zu tun? Im Basler Architekturbüro wurden über Jahre hinweg Recherchen zum Kammergrundriss betrieben. „Wir haben uns intensiv mit den Prinzipien von gleichwertigen zellenartigen und verbundenen Räumen beschäftigt und dabei Themen der Kammerung untersucht“, schreibt Luca Selva in einem lesenswerten und teilweise autobiografischen Essay „Über Raum und Räume“. Er beschreibt darin eine seiner ersten Vorlesungen an der ETH in Lausanne, wo es um Louis Kahns Idee der „dienenden und bedienten“ Räume ging. „Ich erinnere mich noch ganz genau, wie sich damals Widerstand in mir regte.“ Er habe sich der Idee „an den einen grossen Raum“ nicht anschliessen können. Mit den Studien zum Kammergrundriss legte er den Fokus auf die Gesamtheit des Raumes, „der sich aus vielen Teilen fügt, wo gleiches unterschiedlich und damit räumlich herausfordernd wird.“

Über Raum und Räume – Kammergrundrisse und Luca Selva Architekten © Park Books
Vielfalt in der Einheit
Christoph Wieser untersucht in einer architekturtheoretischen Annäherung das „elementare, unhierarchische Ordnungsprinzip“ des Kammergrundrisses, der als Typologie seit der frühsten Antike existiert, wie beispielsweise bei Siedlungen in Anatolien um 7000 vor Christus. „Umso erstaunlicher ist es, dass der Kammer- oder Zellengrundriss in der Literatur bislang kaum vertieft behandelt worden ist.“ Dem soll Abhilfe geschaffen werden. Wieser beschreibt anschaulich, wie Luca Selva Architekten anfangs beim Projekt für eine Wohnüberbauung in Erlenbach mit der scheinbaren Einfachheit des Kammergrundrisses zu kämpfen hatten: „Allein, die Wohnungen waren noch zu gross, die Flächen und funktionalen Zuordnungen zu wenig optimiert, als dass eine ökonomisch tragfähige Lösung entstanden wäre.“ Wieser nimmt die Leserschaft mit auf die stetige Weiterentwicklung von Luca Selvas Grundrissen und verknüpft dies gekonnt mit der grossen Architekturgeschichte, vom Hofbau auf Rhodos (400 v. Chr.) bis zum Haus in Tavole (1988) von Herzog & de Meuron. Die Geschichte des Kammergrundrisses ist reich und vielfältig. Christoph Wieser beweist, dass sich die vertiefte (und weiterführende?) Auseinandersetzung lohnt.

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Im Gespräch mit Patrick Gmür
In einem lesenswerten Gespräch spürt Luca Selva mit Architektenkollege Patrick Gmür den Fragen des Entwurfsprozesses, Grundrisstypologie, Wohnungsbau, gesellschaftlichen Verantwortung und dem Unterschied zwischen Kunst und Architektur nach. „Der Künstler hat die weisse Leinwand und er hat vielleicht Respekt, diese zu füllen. Wir haben wenigstens die Vorgaben“, erklärt Patrick Gmür seinen proaktiven Umgang mit den vielen normativen und baugesetzlichen Einschränkungen. Luca Selva übt dezidierte Kritik an den Mechanismen des Wohnungsmarkts: „Alle Baukredite werden von den Banken mit dem gleichen Tool auf ihre Wirtschaftlichkeit geprüft. Das führt zu einer gewissen Gleichförmigkeit unter privaten wie auch institutionellen Investoren. Der Markt ist träge.“ Es ist ein offenes, ehrliches Gespräch zwischen den beiden erfahrenen Berufskollegen. In einer Zeit der wirtschaftlichen „Überhitzung“ dürfe man die grundsätzlichen Fragen nicht vergessen: „Was ist die übergeordnete Qualität? Was ist der Beitrag an die Stadt?“ – „Ich glaube, das ist die entscheidende Frage: Was machen wir für die Gesellschaft?“

Über Raum und Räume – Kammergrundrisse und Luca Selva Architekten © Park Books
Über Form und Formen
Von der ersten Berührung mit dem Leineneinband macht das Buch einen hochwertigen, sorgfältig gestalteten Eindruck. Das grafische Ordnungsprinzip – in Anlehnung an die Kammergrundrisse – besteht aus zwei seitlichen Textspalten und einer leeren Mittelspalte, worin die Seitenzahl angeordnet ist. Dadurch lässt sich die Zweisprachigkeit gut organisieren: Links deutsch, rechts englisch. Neben den Textteilen besteht das Buch hauptsächlich aus zahlreichen Grundrissplänen, alle im Massstab 1:500 und genordet gezeichnet. Es handelt sich um Projekte von Luca Selva Architekten und wegweisende Referenzen. Eingestreut sind einige wenige Schwarzweiss-Fotografien von gebauten Projekten. Den einzigen farbigen Akzent setzen die Trennblätter zwischen Inhaltsverzeichnis und Endnoten.

Über Raum und Räume – Kammergrundrisse und Luca Selva Architekten © Park Books
Fazit
Singular und Plural: Wie schon der Titel „Über Raum und Räume“ erahnen lässt, handelt es sich um ein richtiges Architekturbuch, von ArchitektInnen für ArchitektInnen gemacht – und vielleicht ist es deshalb umso konsequenter und kompromissloser in Sachen Inhalt und Grafik. Bilder finden sich nur wenige. Pläne und Text sind Trumpf. Content first. Alles in schwarzweiss nota bene. Ein Must-have. Unsere Kaufempfehlung geht an alle, die das Buch noch nicht haben. Den Machern gebührt ein Lob. So macht Architekturbuch Spass.
Text: Lukas Gruntz / Architektur Basel
Über Raum und Räume
Kammergrundrisse und Luca Selva Architekten
Herausgegeben von Tilo Richter und Christoph Wieser. Mit Texten von Luca Selva und Christoph Wieser sowie einem Gespräch mit Luca Selva von Patrick Gmür
1. Auflage, 2021, Park Books
Text: Deutsch und Englisch
Gebunden, 128 Seiten, 62 sw Fotos, Pläne und Zeichnungen
20 x 24 cm
ISBN 978-3-03860-208-8