«Wir erinnern uns: an die schmucken Appenzeller Häuser mit gelben Ställen und roten Toren, an prachtvolle weiss gekalkte Engadiner Häuser, an die Klosterbauten inmitten der Berge, die sich strahlend hell und voluminös der noch mächtigeren Umgebung voranstellen. Und wir erinnern uns kaum: an die vielen Häuser, die den Weg zu unserer Arbeit säumen. An die Kirche im Dorf, deren helle Fassade vor dem sattgrünen Hügel für einen ebenso eindrücklichen Kontrast sorgt, wie es die weiss gekalkten prächtigen Gebäude im Engadin tun.»
Die 2024 erschienene Publikation «Farbkultur und Handwerk in Schweizer Regionen» fasst verschiedene Analysen von Forschenden des «Haus der Farbe» zusammen. Gesucht wurde unter anderem nach regionalen Charakteristiken und Farbe im schweizerischen Bauen. Das etwas grösser als A4-gehaltene Buch ist schön gearbeitet; ein Textil hält die Paperback-Buchdeckel zusammen. Ein haptischer und optischer Hingucker. Doch auch inhaltlich hat das Buch unsere Aufmerksamkeit erregt. Es leistet beispielsweise einen Beitrag zu Fragen, die uns immer häufiger beschäftigen, wenn wir im Bestand bauen: was ist «ortstypisch» – welche Oberflächen oder Farben bewegen sich innerhalb des architektonischen Lokalkolorits?
Das Buch ist in sechs grosse Kapitel gegliedert – und jeweils in Deutsch gehalten mit französischem Résumé. Den Auftakt machen etliche Farbkarten zu unterschiedlichen Regionen: vom Thurgau über die Waadt, den Aargau, Stein am Rhein bis hin zum Tessin. Aus der Region Basel finden wir Farbkarten aus Maisprach und Allschwil. Die Auflistung unterscheidet jeweils zwischen Ortsbildern, Altstädten, Regionen (hier wäre Maisprach vertreten) oder Typologien (Allschwil mit seinen Fachwerken).
Es folgt ein theoretischer Geschichtsteil zu Farben und Putzen verschiedener Epochen vor 1875, bis 1920 oder in den 1930er- und 1940er-Jahren. Thematisiert werden unter anderem die Standardisierung von Farben um 1950, zeittypische Farben um 1970 oder nach 1990. Wir erfahren beispielsweise, welchen Einfluss die ab 1970 aufkommenden Wärmedämmsysteme auf die Farbgestaltung und Verputze unserer Dörfer und Städte hatten. Die ersten Dünnschichtsysteme etwa erlaubten nur noch eine kleine Auswahl an Oberflächenstrukturen und aufgrund möglicher Verformungen nur noch helle Farbtöne.
Bei allen Farbkarten und Beispielen fehlt einem beim Betrachten manchmal der Bezug zur analysierten Realität. Wenngleich Farbkarten ein Destillat aus unterschiedlichen Gebäuden darstellen und eine allgemeine Auslegeordnung schaffen sollen, so wäre es hilfreich zu sehen, was sie referenzieren. Zu den ausführlichen Beschrieben der Appenzeller Häuser etwa wären Abbildungen schön gewesen. An dieser Stelle sei auch eine kleine Kritik am Schriftbild erlaubt. Wenn die fast unangenehm grosse, weisse Schrift auf schwarzem Grund etwas kleiner ausgefallen wäre, hätte sich bestimmt etwas Platz für Abbildungen gefunden…
Ergänzt werden die Farbstudien durch Oberflächenstrukturen. Von den um 1900 verwendeten Stipp- und Patscheputzen über den Rutenbesenstrich oder die um 1930 verarbeiteten Kellenschlepp- und Kellenzugputze bis hin zum heute oft verwendeten negativen Abrieb. An dieser Stelle sei auch die Publikation «Über Putz – Oberflächen entwickeln und realisieren» von Annette Spiro, Hartmut Göhler und Pinar Gönül (Hg.), 2012 erschienen im gta Verlag empfohlen.
Es folgt Exkurs zum Bauen im alpinen Raum und macht die Feststellung: Die Kirche ist oft das hellste Gebäude im Dorf, manchmal das Schulhaus oder das Gemeindehaus oder das Gerichtsgebäude. Am Beispiel traditioneller Oberwalliser Bergdörfer lesen wir: der Grossteil der anderen Gebäude sind in eher dunklem Holz gehalten. Wenngleich dies heute bestimmt nicht mehr überall zutrifft. Etwa auf der Bettmeralp, deren ikonische Kapelle als Beispiel aufgeführt wird, kann der Lesende aus eigener Erfahrung sagen: viele Neubauten und tragisch überformte, aufgeblasene, mit aufgeschraubten Holzfassaden als Chalet «gestalteten» Massivbauten interessieren sich nicht für «Ortstypisches», weder was die Farbe noch die Architektur betrifft. Vielleicht hätten mehr Überlegungen in Richtung der vorliegenden Publikation zumindest teilweise Abhilfe schaffen können.
Aber nun vom Kirchli auf der Bettmeralp zurück ins Baselbiet. Ein Spaziergang durch Maisprach und Allschwil zeigt, was Iwan Raschle im Vorwort sagt: das meiste bemerken wir gar nicht. Oder jedenfalls nur im Unterbewusstsein. Vermutlich funktioniert das Ortsbild dort also noch. Bei genauem Hinsehen nehmen wir die Ortskerne als unaufgeregt und fürs Auge passend wahr. Dennoch sieht sich die Publikation nicht als Bewahrer von Historischem, zeigt sie eben doch auch die zeitliche Entwicklung – und darüber hinaus die Verschiedenartigkeit im schweizerischen Kontext, auch bezogen auf unterschiedliche Konstruktionssysteme wie Kalk, Holz oder Stein bis hin zum Stucco lucido. Vielleicht – und das ist eine persönliche Vermutung, überfordert uns die Vielfalt an möglichen Materialien, Strukturen und Farben manchmal so sehr, dass wir die Flucht nach vorne antreten und uns gar nicht einpassen wollen – und bewusst absetzen. Vermutlich fehlt uns einfach ein brauchbares Regelwerk, diese Vielfalt zu verstehen.
Text: Simon Heiniger / Architektur Basel
Marcella Wenger-Di Gabriele
Stefanie Wettstein
David Keist
Matteo Laffranchi
Haus der Farbe (Hrsg.)
Farbkultur und Handwerk
in Schweizer Regionen
190 Seiten, ca. 170 Abbildungen
Klappenbroschur, 21.2 × 31.8 cm
© 2024 Triest Verlag
CHF 49.- / EUR 49.- (D) 50.40 (AT)
ISBN: 978-3-03863-082-1
Mehr zu diesem Buch gibts HIER auf der Website des Triest-Verlags.