PETITION GAV ARCHITEKTUR

«Die Leere gehört zum Kunstwerk wie die absichtliche Stille zum Musikstück» – Skulpturen in der Christuskirche Allschwil

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«Lange war mir nicht klar, wie ich die Skulpturen ausgestalten würde. Viel mehr setzte ich mich zu Beginn mit der bestehenden Architektur auseinander.» Künstler Manfred Cuny hat zu unserem Treffen in der Allschwiler Christuskirche eine Mappe mit Fotografien mitgenommen. Zu sehen ist er selbst bei der Arbeit: «Ich bin selten hier. Doch wenn ich wieder einmal vor den Skulpturen stehe, erinnere ich mich an alle Details.»

Die drei Bildräume zwischen den Pilastern der Christuskirche, Foto © Simon Heiniger / Architektur Basel

Die drei Bildräume zwischen den Pilastern der Christuskirche, Foto © Simon Heiniger / Architektur Basel

Drei Gruppen von Menschen
Aufmerksam auf die Skulpturen bin ich im Rahmen einer Recherche zur Christuskirche geworden. Trotz der zurückhaltenden Gestaltung fallen sie einem früher oder später ins Auge, heben sie sich doch klar vom schlichten Kirchenraum ab. In drei langrechteckigen, räumlich ausformulierten liegenden Rahmen zwischen den Pilastern schauen der Kirchengängerin und dem Besucher ungefähr auf Augenhöhe vierundzwanzig Figuren über die Schulter. Zumindest auf den ersten Blick. Bei genauerem Hinsehen wird klar: Die steinernen Köpfe beschäftigen sich vor allen Dingen mit sich selbst, einige drehen dem Kirchenraum gar ihren Rücken zu. Oder zumindest das, was wir als Rücken interpretieren. Die Figuren weisen menschliche Merkmale auf, doch sind sie bisweilen im Ausdruck sehr rudimentär gehalten. «Anatomie hat in der Bildhauerei noch nie eine Rolle gespielt», sagt Manfred Cuny, «was wir sehen, sind Andeutungen, Interpretationen von Ansichten und Meinungen. Wichtig sind Körperhaltung, Ausrichtung und die Position im Raum, die Sanftheit oder Schärfe der Bearbeitung. Die drei Skulpturen zeigen verschiedene Situationen: eine Gruppe von Zuschauern, eine Gruppe von Freunden und eine Gruppe von Gegnern», ergänzt Cuny.

Bildraum «Gruppe von Zuschauern», Foto © Simon Heiniger / Architektur Basel

Bildraum «Gruppe von Zuschauern», Foto © Simon Heiniger / Architektur Basel

Den Skulpturen geht ein offener Wettbewerb voraus. Im Jahr 1997 ausgeschriebenen «Wettbewerb zur künstlerischen Gestaltung der Christuskirche» hält die Kirchgemeinde vieles offen. Die Arbeiten sollen sich an der «Christus-Idee» orientieren. Cuny sieht in dieser sehr freien Formulierung zwischen den Zeilen etwas wie einen leisen Hilferuf: «Meiner Ansicht nach zeigte sich darin die Krise, in der sich die Kirche nach wie vor befindet», mutmasst Cuny, «die einst verbindlichen mythischen Bilder sind verblasst. Vielleicht war sich die Kirche diesem Zustand damals noch nicht richtig bewusst, jedenfalls war es auch eine Chance. In erster Linie für die Kirche, aber auch für mich selbst, mich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen.» Mit dieser Hoffnung ist Cuny nicht allein. Insgesamt gehen achtundsechzig Vorschläge von Künstlerinnen und Künstlern aus beiden Basel ein.

Gleichzeitige Renovation
Dabei war lange nicht klar, welcher Entwurf umgesetzt werden sollte. Um den Prozess zu beleuchten, müssen wir allerdings etwas zurück in der Zeit. Anlässlich des sechzigjährigen Bestehens der Christuskirche soll sich eine Arbeitsgruppe mit einer Renovation des Kirchengebäudes aus dem Jahr 1931 auseinandersetzen. Das Gebäude der Architekten Bräuning, Leu und Dürig ist in die Jahre gekommen, nicht aber aus der Mode. In den Fragen zur Architektur scheiden sich die Geister. Tatsächlich können sich nicht alle Kirchenmitglieder mit der Gestaltung des Kirchenraums anfreunden, wie 1992 im Leitartikel der «Kirche aktuell» festgestellt wird. Dennoch: Die Kirchenpflege hat sich mehrheitlich gegen einen grundsätzlichen Umbau und für eine sanfte Renovation entschieden; der schlichte, zeitlose Stil soll erhalten bleiben. Wettbewerb und Renovationsplanung laufen parallel.

«Meiner Ansicht nach zeigte sich darin die Krise, in der sich die Kirche nach wie vor befindet.»

Der Wettbewerb ist in drei Phasen gegliedert. In einem ersten Schritt sind Ideen- und Konzeptskizzen gewünscht. Die Veranstalterin behält sich vor, für die zweite Phase noch maximal drei Teilnehmende zu nominieren. Vor dem Hintergrund, drei Ideen vertieft ausarbeiten zu lassen, sollen diese entsprechend honoriert werden. In der letzten Phase wird das zur Ausführung gewählte Projekt weiter konkretisiert. Beurteilt werden die Arbeiten von einem ehrenamtlichen Gremium bestehend aus Mitgliedern der Kirchenpflege und Baukommission, Künstlerinnen und Künstlern und weiteren Fachpersonen. Mit im Team sind auch die für den Umbau verantwortliche Architektin Verena Näf und die Kunsthistorikerin Dorothee Huber.

Bildraum «Gruppe von Freunden», Foto © Simon Heiniger / Architektur Basel

Bildraum «Gruppe von Freunden», Foto © Simon Heiniger / Architektur Basel

Was ist die «Christus-Idee»?
Manfred Cuny entscheidet sich also, am Wettbewerb teilzunehmen. Noch immer beschäftigt ihn die relativ offen gehaltene Aufgabenstellung, insbesondere das Thema der «Christus-Idee». Auch die Kirche scheint sich nicht sicher, was schlussendlich darunter zu verstehen ist und verfasst eine Hilfestellung. Darin schreibt sie: «An sich ist Christus nach Verständnis des christlichen Glaubens nicht eine Idee, sondern eine Person (…). Man denkt an den Einsatz für die Schwachen und Rechtlosen (…). Christus als der Auferstandene, der Herr, der Richter, der Wiederkommende. In diesem Zusammenhang stehen auch bildhafte Vergleiche wie Christus als Weg, als Wahrheit, als Licht, als Leben.» Diesem doch sehr intellektuellen Versuch, die Christus-Idee zu beschreiben folgt dann aber doch noch eine konkrete Adaption für die Kirche in Allschwil: «Das zentrale Symbol des christlichen Glaubens, das Kreuz, bringt Horizontale und Vertikale zusammen. Es möchte das Göttliche und das Menschliche einander näherbringen. Diese Begegnung (…) kann aber keineswegs nur durch das Symbol des Kreuzes ausgedrückt werden.» Die Kirche erhofft sich – zumindest liest sich der Beschrieb dahingehend – eine etwas freiere Interpretation dieser Symbolik. Weder sei eine Taube, ein Fisch oder ein Hahn Pflicht. Gewünscht wird eine künstlerische Gestaltung (…) als Ausdruck subtiler, zeitgemässer christlicher Religiosität.

Weder sei eine Taube, ein Fisch oder ein Hahn Pflicht. Gewünscht wird eine künstlerische Gestaltung (…) als Ausdruck subtiler, zeitgemässer christlicher Religiosität.

«Ich habe mich im ersten Moment dafür entschieden, in meiner Wettbewerbsabgabe den Fokus auf den Ort in der Kirche und das Zusammenspiel mit der Architektur des umgebauten Raumes zu legen. Die fensterlose Eingangswand und im Speziellen die leeren Wandflächen zwischen den Pilastern schienen mir sehr gut geeignet für Kunst am Bau. Kunstwerk und Architektur gehen einher, ohne sich gegenseitig zu konkurrenzieren.»

Bildraum «Gruppe von Gegnern», Foto © Simon Heiniger / Architektur Basel

Bildraum «Gruppe von Gegnern», Foto © Simon Heiniger / Architektur Basel

Im Januar 1997 trifft sich das Gremium zur anonymen Konzeptschau. Alle eingegangenen Arbeiten werden in der leeren Kirche ausgestellt. Schliesslich schlägt das Gremium der Kirchenpflege neben Manfred Cunys Entwurf zwei weitere Arbeiten zur intensiveren Bearbeitung vor. Die Arbeit von Annette Barcelo bringt unterschiedlich grosse bildnerische Darstellungen im Bereich der Deckenbalken an. Der Inhalt nimmt Bezug auf Ängste und Hoffnungen. Samuel Buri arbeitet mit additiven Elementen, ohne den Bestand zu verändern. Zwölf vor die bestehende Befensterung gesetzte bleiverglaste Scheiben sollen den Besucherinnen und Besuchern der Kirche die Christus-Idee über eine Vielzahl an Symbolen näherbringen.

Backsteine als Basis
Cuny erstellt in der Folge Modelle seiner angedachten Plastiken und fotografiert sie vor Ort in der Kirche. Als Grundmaterial wählt er den Ziegelstein. In der Arbeit im Hof «zum Isaak» am Münsterplatz 15/16 hat er bereits Erfahrung mit diesem Baustoff gesammelt. Für die Christuskirche in Allschwil arbeitet Cuny auf verschiedenen Ebenen. Einerseits bezieht er sich stark auf die vorhandene Architektur, stellt räumliche Bezüge her und überprüft die Wirkung der Bildräume aus sitzender und stehender Haltung. Auf der sozialen Ebene stellen die Figuren in den Kästen die eingangs beschriebenen Gruppen und deren Verhalten nach. Schlussendlich integriert Cuny biblische Szenen, etwa jene der Ehebrecherin oder Jesus nach der Auferstehung.

Anhand von Styropormodellen testet Cuny seine Idee vor Ort, Fotografie: A. Egli, zur Verfügung gestellt von M. Cuny

Anhand von Styropormodellen testet Cuny seine Idee vor Ort, Fotografie: A. Egli, zur Verfügung gestellt von M. Cuny

Die Jury führt mit den drei Künstlerinnen und Künstlern vertiefte Einzelgespräche und lässt die Arbeiten weiter konkretisieren, bevor sie der Kirchenpflege die bildnerische Arbeit von Annette Barcelo zur Ausführung vorschlägt. Von Beginn weg ist vorgesehen, dass die Jury in diesem Wettbewerb lediglich eine Empfehlung abgeben wird. Dennoch spielt sie in der Evaluation eine wichtige Rolle. Die Qualität liegt insbesondere darin, den Fokus auf die für den Ort richtigen Arbeiten zu legen. Es obliegt nun der Kirche selbst, für welche Arbeit sie sich schlussendlich entscheidet. Dazu befragt sie die Mitglieder der eigenen Kirchgemeinde. Diese sprechen sich mehrheitlich für die Arbeit von Manfred Cuny aus.

«Aufgrund der Debatten konnte ich nicht darauf bauen, den Wettbewerb zu gewinnen. Ich war sehr überrascht ob diesem Entscheid!»

«Aufgrund der Debatten konnte ich nicht darauf bauen, den Wettbewerb zu gewinnen», meint Cuny dazu, «ich war sehr überrascht ob diesem Entscheid!» Aus den Styropormodellen sollen nun also Figuren aus Stein werden. Bevor Hammer und Meissel zum Einsatz kommen, sind allerdings noch Vorbereitungen nötig. «Die Skulptur besteht aus gemauerten Backsteinen. Zement und Backstein müssen beim Meisseln ungefähr denselben Widerstand aufweisen», erklärt Cuny und ergänzt: «dafür musste ich die Backsteine erst in Wasser einlegen.»

Vor der Bearbeitung werden die Backsteine in Wasser eingelegt, Fotografie: A. Egli, zur Verfügung gestellt von M. Cuny

Vor der Bearbeitung werden die Backsteine in Wasser eingelegt, Fotografie: A. Egli, zur Verfügung gestellt von M. Cuny

Anhand der Styropormodelle werden die Backsteinpositive zusammengemauert und in einem ersten Schritt grob zugeschnitten. Cuny ist dabei wichtig, dass die Schneidspuren sichtbar bleiben. Nicht alle scheinbar geraden Flächen sind geschnitten. Die Backsteine werden nur dort geschnitten, wo sie die Bildraumwände berühren oder wo sie die Vorderkante der Bildräume sichtbar machen.

Die zu einer Grobform aufgemauerten Backsteine vor der Bearbeitung, Fotografie: Andreas F. Voegelin, zur Verfügung gestellt von M. Cuny

Die zu einer Grobform aufgemauerten Backsteine vor der Bearbeitung, Fotografie: Andreas F. Voegelin, zur Verfügung gestellt von M. Cuny

Figurübergreifendes Fugenraster
Über den Entstehungsprozess von Kunstwerken ist meist wenig zu erfahren. Oft wird nur das fertige Werk besprochen und beurteilt. Manchmal geschieht dies mit Absicht. Ich bin mit dem Wunsch auf Manfred Cuny zu, genau diesen Prozess aber zu beleuchten. In diesem Licht gibt es viele Parallelen zur Architektur. Obschon ein Gebäude in der Regel als fertiges Bauwerk benutzt und wahrgenommen wird, entscheidet zu einem Grossteil die planerische Vorleistung über dessen Erfolg und Bestand im Alltag. Ob und wie dieser Prozess im Endprodukt sichtbar oder unsichtbar ist, interessiert mich. Manfred Cuny hat mir deshalb eine ganze Menge Bilder aus der Zeit der Herstellung mitgebracht. «Die Frage der Wirkung hängt in diesem Fall stark mit dem Konzept der Erstellung zusammen. Die Besucherin oder der Besucher macht sich Gedanken über den Prozess. Viele Leute glauben im ersten Moment etwa, die Fugen seien aufgemalt.» Das Fugenbild entspricht dem Format und der Grösse der genormten Backsteine. Dabei ist das Fugenraster figurübergreifend. Wenn die verschieden schrägen Flächen auf das Raster treffen, entstehen bisweilen eigenwillige Kombinationen.

Cuny ist wichtig, dass die Schneidspuren sichtbar bleiben, Fotografie: A. Egli, zur Verfügung gestellt von M. Cuny

Cuny ist wichtig, dass die Schneidspuren sichtbar bleiben, Fotografie: A. Egli, zur Verfügung gestellt von M. Cuny

So stehe ich also vor den drei Bildräumen, im Hinterkopf die Styropormodelle und die leere Kirche vor dem Umbau. Ich drehe mich um, betrachte die Fenster und überlege mir, wie die Scheiben von Samuel Buri wohl gewirkt hätten? Oder die Darstellungen an der Decke von Annette Barcelo? Über die Wirkung der fertigen Skulpturen hat sich auch die Öffentlichkeit Gedanken gemacht. Er hätte sehr positive Rückmeldungen erhalten, meint Cuny. Die Leute fühlten sich wortwörtlich auf Augenhöhe abgeholt. «Etwas Angewöhnung war allerdings vor Ort nötig», sagt Cuny und lacht: «Zu Beginn fand ich öfters Gegenstände im Freiraum unter den Rahmen vor, etwa Wagen mit Gesangsbücher. Jedoch gehört die Leere zum Kunstwerk wie die absichtliche Stille zum Musikstück.»

Cuny hat sowohl vor als auch nach der Christuskirche mit Backsteinen und der Technik des Bildhauens gearbeitet. Zweifelsohne stellen die Figuren in Allschwil einen wichtigen Schritt dar. «Viele der in der Christuskirche behandelten Themen greife ich noch in meiner heutigen Arbeit auf», sagt Cuny und fügt an: «auch wenn diese Verbindung auf den ersten Blick nicht direkt sichtbar ist. Es findet eine stetige Weiterentwicklung statt.»

Text: Simon Heiniger / Architektur Basel


Quellen:
– Gespräch mit Manfred Cuny vor Ort
– Schiess, Robert (1999): «Gegnerschaft, Zuschauen, Freundschaft», in: Basellandschaftliche Zeitung vom 07.09.1999, Kulturteil
– Sutter, Hans (1992): «Unsere Christuskirche wird sechzig Jahre alt», in: Kirche Aktuell vom August 1992, Ausgabe 8/1992
– Wettbewerbsausschreibung «Ideen und Konzepte für die künstlerische Gestaltung der Christuskirche, Grundlagenpapier für interessierte Künstlerinnen und Künstler» vom 12.12.1996
– Informationsschreiben an die Teilnehmenden des Wettbewerbs «Orientierung zum Thema Christus-Idee» vom 18.01.1997


Tipp: Manfred Cuny stellt seine aktuellen Werke vom 30. September bis 06. November 2021 in der Galerie Eulenspiegel in Basel aus. Weitere Infos: www.galerieeulenspiegel.ch

 

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