PETITION GAV ARCHITEKTUR

(K)ein neues Zentrum für Birsfelden?

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Mit komfortablen 66% Ja-Stimmen wurde der «Quartierplan Zentrum» in Birsfelden an der Gemeindeversammlung im vergangenen Dezember angenommen. Ein erfreulicher Entscheid für das Projekt, dass in einem mehrjährigen Prozess erarbeitet wurde. Gegen den Beschluss wurde nun aber mit 1023 gültigen Unterschriften – mehr als doppelt so viele wie nötig – das Referendum ergriffen. Die geplante neue Mitte muss sich nun am 27. März 2022 erneut vor dem Stimmvolk behaupten.

Die Nachfrage nach Wohnraum in der Region Basel ist hoch. Der Druck, von innen her zu verdichten ist gross. Auch Birsfelden sieht sich mit dieser Problematik konfrontiert – und das nicht erst seit gestern. Diesbezüglich Potential bietet insbesondere der unbebaute Raum zwischen der heutigen Gemeindeverwaltung an der Hauptstrasse im Süden und dem Areal des Kirchmattschulhauses an der Kirchstrasse im Norden. Städtebaulich orientieren sich grosse Teile von Birsfelden an den drei von Osten nach Westen verlaufenden Hauptverkehrsachsen, der von Basel herkommenden und nach Schweizerhalle führenden Hauptstrasse, der erwähnten von ihr abgehenden Kirchstrasse, die als Friedhofstrasse schliesslich bis zum Hafen führt und der Rheinparkstrasse entlang des Rheinparks. Komplettiert wird das Netz aus mehrheitlich orthogonal verlaufenden Querstrassen. So finden sich in Birsfelden denn auch eine Menge unterschiedlich ausgerichtete Zeilenbebauungen und einige tatsächliche, mehr oder minder geschlossene Blockränder. Eine Ausnahme bildet das umstrittene Areal im Zentrum. Im Gelenk zwischen Haupt- und Kirchstrasse ist es weder Fisch noch Vogel und bricht schliesslich in der Mitte zu einem durchgesteckten Grünraum auf.

Perimeter des «Quartierplan Zentrum» Darstellung: Architektur Basel, Grundlagen: © Bundesamt für Landestopografie swisstopo

Perimeter des «Quartierplan Zentrum» Darstellung: Architektur Basel, Grundlagen: © Bundesamt für Landestopografie swisstopo

Zustand heute: Viel Wiese, Bäume und Parkplätze © Simon Heiniger / Architektur Basel

Zustand heute: Viel Wiese, Bäume und Parkplätze © Simon Heiniger / Architektur Basel

Langer Prozess für ein neues Zentrum
Bereits 1970 wurde ein erster Wettbewerb zum Gemeindezentrum veranstaltet, das Projekt jedoch daraufhin sistiert. Mehr als fünfundzwanzig Jahre später versandete auch der Wettbewerb zur Sanierung der alten Turnhalle. Im Jahr 2005 entschied man sich, das Zentrum als Gesamtprojekt zu konzeptionieren und liess eine Potentialstudie erstellen. Die Testplanung wurde 2009 zurückgestellt und 2013 in Form eines Dialoganlasses mit der Bevölkerung wieder aufgenommen. Die Gemeindeversammlung sprach einen Kredit für die Erarbeitung eines Stadtentwicklungskonzeptes. Dieses wurde schliesslich 2016 verabschiedet, worauf die Gemeindeversammlung wiederum einen Kredit für Erarbeitung einer Studie zum Zentrum sprach. Sechs Teams aus Basel, Zürich und Brugg entwickelten und präsentierten der Jury ihre Projektideen Ende 2017. Durchsetzen konnte sich letzten Endes das Projekt «Camillo» von Harry Gugger Studio und Westpol Landschaftsarchitekten aus Basel. Der Studienauftrag wurde 2018 präsentiert und anschliessend mehrfach überarbeitet.

Vogelperspektive auf das Neue Zentrum Birsfelden © Harry Gugger Studio, Basel, Westpol Landschaftsarchitektur, Basel, Visualisierung: nightnurse, Zürich

Vogelperspektive auf das Neue Zentrum Birsfelden © Harry Gugger Studio, Basel, Westpol Landschaftsarchitektur, Basel, Visualisierung: nightnurse, Zürich

Verbindungsachse mit mehreren Plätzen
Im Dezember 2021 schliesslich verabschiedete die Gemeindeversammlung die Quartierplanung Zentrum. Das Projekt sieht im Wesentlichen eine Nord-Süd-Verbindungsachse zwischen Haupt- und Kirchstrasse vor, begleitet durch unterschiedlich hohe Zeilenbebauungen, die unter anderem bis zu 200 Wohnungen beinhalten, ausgehend vom neuen Zentrumsplatz an der Hauptstrasse. Es folgen verschiedene Einzelbauten im Schmalbereich zwischen der Schulstrasse und dem Kirchmattschulhaus. Die Erschliessungsachse besteht aus einer Abfolge von weiten und schmalen Bereichen, verschieden ausformulierten Platzsituationen und entsprechend gesetzten Baumformationen. Insbesondere im südlichen Teil des Zentrums bilden die Bäume bis auf wenige Ausnahmen das einzige Grün zwischen den Bebauungen. Jedoch sind die ganzen rückwärtigen Höfe der Gebäude als Rasen geplant. Der Hof im Norden vis-à-vis des Kirchmattschulhauses öffnet sich zur Erschliessungsachse und verbreitert diese zumindest optisch. In der Achse des geplanten Lavaterplatzes wartet das Zentrum mit zwei grossen Naturgärten und Blumenwiesen auf. Diese machen fast einen Drittel des gesamten geplanten Grünraums aus.

Darstellung der Durchwegung, Quelle: Präsentation zum Infoanlass «Quartierplan Zentrum» vom 21.10.2021

Darstellung der Durchwegung, Quelle: Präsentation zum Infoanlass «Quartierplan Zentrum» vom 21.10.2021

Zu dicht und zu wenig grün?
Aus Sicht des «Komitees für ein grünes Zentrum» geht das Projekt rund um den Quartierplan Zentrum gleich mehrfach in die falsche Richtung. Grösster Kritikpunkt ist gemäss Referendumskomitee der nachher nicht mehr vorhandene Freiraum. Das Komitee fordert weniger Verdichtung. «Keine Verdichtung auf öffentlichen Grünflächen» titelte etwa ein Abstimmungsplakat im Vorfeld der Gemeindeversammlung vom 13. Dezember. Das Plakat nahm dabei Bezug auf eine frühere Stellungnahme des Kantons, wonach die geforderte Mindestnutzungsdichte gemäss Kantonalem Richtplan bei weitem übertroffen wird. Der Kanton sah im Bericht allerdings keinen Grund, dem Vorhaben etwas entgegenzusetzen, sofern die erhöhte Nutzungsdichte nicht im Widerspruch zu einer hochwertigen Siedlungs- und Freiraumqualität stünde. Ebendiese angestrebte Freiraumqualität sehen die Gegnerinnen und Gegner des Quartierplans nicht erfüllt.

Die oberirdischen Parkplätze verschwänden bei Annahme des Quartierplans im Untergrund © Simon Heiniger / Architektur Basel

Die oberirdischen Parkplätze verschwänden bei Annahme des Quartierplans im Untergrund © Simon Heiniger / Architektur Basel

Stellen wir also einen Vergleich an. Derzeit befindet sich angrenzend an die Hauptstrasse ein grosser Parkplatz. Dahinter ist praktisch die gesamte Fläche bis zum Schulareal mit Grünflächen durchzogen. Ein Weg führt zum asphaltierten Schulplatz an der Kirchstrasse. Insgesamt gibt es heute rund 12’000 Quadratmeter Grünfläche und nochmals knapp 1’000 Quadratmeter begrünte Dächer im Bereich. Mit dem Quartierplan Zentrum wird die Grünfläche am Boden auf unter 8’000 Quadratmeter reduziert, jedoch um knapp 5’000 Quadratmeter Dachbegrünung ergänzt. Zusammengerechnet ergibt sich so eine Grünfläche von knapp über 13’000 Quadratmetern. Also ungefähr gleich viel wie vorher. Der Grossteil der Grünflächen befindet sich wie erwähnt in den Höfen der Bebauungen. Die öffentliche Durchwegung und die Plätze müssen sich mit den partiellen Baumbepflanzungen abfinden. Derzeit gibt es im Perimeter 97 Bestandesbäume. 81 Davon werden für die Bebauung gefällt und anschliessend durch 88 neue Bäume ersetzt.

Vorher-Nachher-Vergleich der Grünflächen, Quelle: Präsentation zum Infoanlass «Quartierplan Zentrum» vom 21.10.2021

Vorher-Nachher-Vergleich der Grünflächen, Quelle: Präsentation zum Infoanlass «Quartierplan Zentrum» vom 21.10.2021

Vorher-Nachher-Vergleich der Baumbestände, Quelle: Präsentation zum Infoanlass «Quartierplan Zentrum» vom 21.10.2021

Vorher-Nachher-Vergleich der Baumbestände, Quelle: Präsentation zum Infoanlass «Quartierplan Zentrum» vom 21.10.2021

Die Nord-Süd-Durchwegung zwischen Haupt- und Kirchstrasse ist zentraler Bestandteil des Quartierplans. Der heute bereits bestehende Weg wird verbreitert und zum Stadtraum. Die Verfassenden des Projekts rechnen folgendermassen: Inklusive dem Parkplatz, dem Schulplatz und den Wegen im Areal sind heute gut 10’730 Quadratmeter asphaltierter versiegelter Belag. Dies soll sich mit dem Projekt ändern. Neu sind knapp 1’000 Quadratmeter weniger Hartbelag geplant, wovon 830 Quadratmeter als sickerfähige Chaussierung ausgeführt werden. Die chaussierten Bereiche befinden sich in den rückwärtigen Höfen, der helle Hartbelag zieht sich durch die gesamten Erschliessungsbereiche.

Darstellung der Grünräume, Quelle: Präsentation zum Infoanlass «Quartierplan Zentrum» vom 21.10.2021

Darstellung der Grünräume, Quelle: Präsentation zum Infoanlass «Quartierplan Zentrum» vom 21.10.2021

20% begrünte Fassaden als Vorgabe
Wertvoller Bestand oder nicht? Wir haben Architekt Harry Gugger als Verfasser des Projekts mit den Argumenten des Referendumskomitees konfrontiert. Er sieht im Grünraumkonzept mehr Diversität der Bepflanzung und attraktiver nutzbarere Aussenräume: «Das bisherige Zentrum wird von vielen als Brache empfunden und wird der Vorstellung von öffentlichem Raum als Sozialraum nicht gerecht», meint Harry Gugger. Insgesamt würde im Quartierplan Zentrum dank sorgfältiger Planung und präziser wie prüfbarer Vorgaben zur «Gestaltung der Umgebungsfläche» das Entstehen eines stark durchgrünten und artenreichen Quartiers garantiert. Was genau bedeutet dies? «Neben den grossräumigen Grünflächen von Kastanienhof, Biotop und Naturschulgarten im Norden des Areals, schaffen die begrünten Höfe eine hohe Aufenthaltsqualität und stadtklimatisch günstige Bedingungen», erklärt Gugger. An gewissen Stellen indes sind bewusst keine Bäume geplant, so muss etwa der Zentrumsplatz für Märkte oder Veranstaltungen frei belegbar sein. Neben den Dachbegrünungen, die einen wesentlichen Teil der gesamten Grünfläche ausmachen, kommen die begrünten Fassaden hinzu. Harry Gugger ergänzt: «Der Quartierplan schreibt eine Begrünung von mindestens 20% der Fassadenfläche vor.»

Blick in die Hauptachse «In der Gasse» © Harry Gugger Studio, Basel, Westpol Landschaftsarchitektur, Basel, Visualisierung: nightnurse, Zürich

Blick in die Hauptachse «In der Gasse» © Harry Gugger Studio, Basel, Westpol Landschaftsarchitektur, Basel, Visualisierung: nightnurse, Zürich

Den Gegnerinnen und Gegnern geht die Überbauung zu weit: «Ganzer Kirchmatt-Schulhausplatz mit Wohnungen überbauen?» fragten sie im Vorfeld der vergangenen Abstimmung auf einem Plakat. Tatsächlich wird ein Teil des jetzigen Schulplatzes mit Wohnungen überbaut. Ein Teil bleibt zu Gunsten des Wegnetzes als Hartbelag erhalten. Der Rest allerdings wird von Asphalt zu Rasen. «Eine Reduktion der baulichen Dichte würde im Kontext der im Umfeld sehr heterogenen Strukturen zum Zerfall der verständlichen und nutzbaren Stadträume führen», entgegnet Harry Gugger.

Quartierplan als Ergebnis des Mitwirkungsprozesses
Fassen wir die unterschiedlichen Ansichten zusammen: Auf dem Papier fällt sowohl die Bilanz der Grünflächen als auch des Baumbestandes positiv aus. Zudem wird es in Zukunft wohl weniger versiegelte Flächen geben. Die vom geplanten Stadtraum her wahrgenommenen Grünräume reduzieren sich allerdings, da sich die meisten Rasenflächen in den Höfen befinden und nicht mehr direkt im Bereich der Durchwegung. Das Projekt definiert Fassadenbegrünungen. Ob und wie sich diese Begrünungen in Zukunft halten können, wird sich zeigen. In Gewisser Weise zeigt die Diskussion um den Quartierplan Zentrum einen klassischen Zielkonflikt. Mehr nutzbare Fläche oder mehr Grünraum, mehr oder weniger Verkehr, mehr oder weniger Regelwerk – Forderungen nach einem sehr individuellen Fokus, meint Harry Gugger. Seiner Ansicht nach wurden im Verfahren rund um die Entwicklung des Quartierplans diese verschiedenen Argumente sorgfältig abgestimmt: «Die landschaftsplanerische und städtebauliche Setzung des Studienauftrags wurde entsprechend den Forderungen (z.B. eine Reduktion der Bauvolumen oder eine intensivere Begrünung) der Baukommission der Gemeinde und der Beteiligten der Dialogveranstaltungen angepasst.» Das Referendumskomitee dürfte dies wohl anders sehen. Die Gegnerinnen und Gegner fühlen sich ungehört. Es stellt sich daher die Frage, welche Punkte im Rahmen der Mitwirkungsverfahren denn überhaupt zur Diskussion stehen. Gugger meint: «Die Planung fusst auf durch Gemeinde und Bevölkerung sanktionierten Grundsatzentscheidungen (In diesem Fall dem Raumplanungsgesetz und dem Stadtentwicklungskonzept), die im Mitwirkungsprozess nicht ausgehebelt, sondern allenfalls auf Projektbasis durch die Gemeindeversammlung oder ein Referendum bachab geschickt werden können», und ergänzt: «Das heisst: Alles oder nichts, was auf Seiten von Verfechtern und Gegnern gleichermassen frustrierend sein kann, aber der gesunden politischen Kultur Rechnung trägt.»

Die Abstimmungsplakate der Gegnerinnen und Gegner sind präsenter © Simon Heiniger / Architektur Basel

Die Abstimmungsplakate der Gegnerinnen und Gegner sind präsenter © Simon Heiniger / Architektur Basel

Die in ihrer Umständlichkeit etwas kleinlichen Bilanz-Rechnereien der Projektverfassenden für mehr oder weniger Einzelbäume und Rasenflächen werden die Gegnerinnen und Gegner des Quartierplans wohl kaum überzeugen können. Ob die je nach Ansicht plakativen Argumente des Referendumskomitees jedoch Gehör finden, sei ebenso dahingestellt.

Letzten Endes muss die Diskussion um den veränderten Grünraum in ein Verhältnis zur gewonnenen Wohn- und Arbeitsfläche, sowie der neuen Stadtraumqualität gesetzt werden. Birsfelden erhielte mit dem neuen Zentrum um die 200 neue Wohnungen, fast 250 unterirdische Parkplätze und mehrere hundert Veloabstellplätze. An Bord sind grossmehrheitlich genossenschaftliche oder gemeinnützige Bauträger wie die Stiftung Habitat oder die Wohnbaugenossenschaft Nordwest. Private Bauten und Bauträger machen die Minderheit aus. Ein weiterer Teil sind Öffentliche Bauten. Dieser Mix dürfte einzigartig sein und spricht in sozialer Hinsicht für das Projekt. Birsfelden wäre der Zeit voraus. Der Quartierplan ist ein Beitrag zur inneren Verdichtung: Heute sind 86% des betrachteten Perimeters unbebaut. In Zukunft wird die unbebaute Fläche auf 68% reduziert und damit das Areal mit neuen Nutzungen ergänzt. Der Bereich wird vom Park zum bebauten Stadtraum. Aus Sicht der Befürworterinnen und Befürworter ein grosser Deal mit Zukunft und Chancen für Birsfelden, aus der Perspektive der Gegnerinnen und Gegner ein Schritt in die falsche Richtung. Es bleibt abzuwarten, wie sich Birsfelden am 27. März entscheidet.

Text: Simon Heiniger / Architektur Basel

 

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