Bereits das Plakat macht Ernst. Viermal steht da in grossen Lettern: «WIR FORDERN». Abriss soll eine Ausnahme sein, Fehlanreize gehören abgeschafft, der Bestand gehört bei Bauprojekten unbedingt einbezogen. Es ist eine explizite Ansage an die hiesige Bauwirtschaft, wobei die neun Schweizerkreüzli in bester direktdemokratischer Manier verkünden: Lasst uns die politische Debatte beginnen! Als Arena fungiert vom 3. September bis 23. Oktober 2022 das S AM mit der Ausstellung ‹Die Schweiz: Ein Abriss›, kuratiert von Countdown 2030. Die Analyse ist eindeutig und verheerend zugleich: «84% des Abfalls in der Schweiz besteht aus Bauschutt. Die Schweizer Abriss-Kultur verursacht pro Sekunde über 500 kg Bauabfall. Die Deponien füllen sich schneller, als neue Standorte überhaupt in Sicht sind. Rund ein Drittel der Schweizer Treibhausgase wird direkt durch Bauten und Bautätigkeiten verursacht, knapp 10% allein durch die verwendeten Baumaterialien.» Eine Trendwende ist nicht in Sicht. Fatal. Die Vernissage der Ausstellung findet kommenden Freitag im S AM statt.
Die MacherInnen konstatieren: «Die Schweizer Bestrebungen sind heute nicht ausreichend, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen.» Es brauche ein rasches Umdenken im Umgang mit den natürlichen Ressourcen, mit dem baulichen Bestand und in der Art und Weise, wie gebaut wird. «Die Lösungsansätze für dieses Problem liegen im Erhalt, im Umbau und in der Umnutzung bestehender Gebäude. Abrisse und Ersatzneubauten sollten, wenn immer möglich, verhindert werden und dürfen nicht länger die erste und scheinbar beste Option sein. Beim Abriss sind Verluste auf verschiedenen Ebenen zu verzeichnen: zum einen gehen die gespeicherte Graue Energie und die verwendeten materiellen Ressourcen verloren, und zum anderen verschwinden die historische Baukultur und die sozialen Netzwerke.»
Um auf die Tragweite der Schweizer Abriss-Kultur aufmerksam zu machen, kuratiert der Verein ‹Countdown 2030›, der sich für eine zukunftsfähige Baukultur einsetzt, im S AM Schweizerisches Architekturmuseum im Herbst 2022 die Ausstellung ‹Die Schweiz: Ein Abriss›. Was zeigt die Ausstellung? Die Ausstellung und das Begleitprogramm beleuchten das Thema Abriss unter vier Aspekten: (1) die enorme Masse der Abrisse, (2) die Dringlichkeit hinsichtlich Ressourcen, Klima und Gesellschaft, (3) Gesetze und Normen, die Abrisse begünstigen, (4) der Fluss des Geldes und die Motivation, die hinter einem Abriss steht. Eröffnet wird die Ausstellung mit der «Strasse der verlorenen Häuser». Die Besuchenden warden mit der Frage ‹In welchem Haus würdest du gern wohnen?› empfangen. Mittels Fotomontage werden einzelne Gebäude zu einer fiktiven Strasse aufgereiht. Die abgebildeten Gebäude wurden in jüngster Zeit abgerissen oder sind unmittelbar vom Abriss bedroht und zeigen in ihrer Reihung eine Umgebung, die es so nie gegeben hat.
Thema des zweiten Raumes ist die Kraft und die Masse des Abrisses: Im Abrisskino sitzt man auf ausgedienten Heizkörpern und Küchengeräten statt auf Kinosesseln. Grossformatige Filme zeigen unkommentiert, wie der Rückbau von Gebäuden heute funktioniert. Im Stil einer Dokumentation gehalten, entfalten sie eine meditative Wirkung. Durch einen Vorhang aus Baufolie gelangt man in den performativen Dreh- und Angelpunkt der Ausstellung: Countdown 2030 richten hier während der regulären Öffnungszeiten des Museums ihr Büro ein. In dieser Zeit ist immer eine Fachperson aus Architektur oder Planung vor Ort und steht für Beratungen zum Thema Abriss zur Verfügung. Ein weiterer Raum ist den Akteur*innen des Abrisses gewidmet: In Videointerviews kommen Protagonist*innen der Baubranche zu Wort und erläutern, welche Entscheide zu einem Abriss führen können. Gespräche mit Bauunternehmer*innen, Investor*innen, Architekt*innen und Behördenvertreter*innen geben aus vielen Perspektiven Einblick in die Thematik. Ein Bildschirm zeigt den «Abriss-Atlas», der sowohl im Vorfeld der Ausstellung als auch im Nachhinein eine Sammlung der abgerissenen Gebäude in der Schweiz kartographiert.
Raum 4 ist der Dringlichkeit und der Handlung gewidmet: Ein Countdown zählt die noch verbleibende Zeit bis 2030, ein Countup gibt an, wieviel Bauschutt seit Beginn der Ausstellung in der Schweiz angefallen ist: Pro Sekunde sind dies 500 kg. Die Petition ‹Fertig mit dem Abrisswahn – Zukunftsfähig Bauen Jetzt› fordert den Bundesrat und das Parlament in fünf konkreten Punkten auf, etwas gegen den Abriss in der Schweiz zu tun und kann von den Ausstellungsbesucher*innen unabhängig von ihrer Nationalität, ihrem Alter und ihrem Wohnort unterschrieben werden. Auch ausserhalb der Mauern des Museums und über die Dauer der Ausstellung hinaus wird ‹Die Schweiz: Ein Abriss› sichtbar. Als vielköpfiges Gremium und aktivistische Gruppierung ist es erklärtes Ziel von Countdown 2030, dass die Ausstellung einen gesellschaftlichen Wandel vorantreibt und die Besuchenden ermuntert, selbst aktiv zu werden.
2022 – 2029
unter www.abriss-atlas.ch Abriss – Atlas
Im Frühsommer 2022 lancierte Countdown 2030 die Website www.abriss-atlas.ch, die bis zum Jahr 2030 weiter betrieben wird. Jeder und jede kann Informationen zu Gebäuden hochladen, denen der Abbruch droht. Die partizipativ erstellte Karte verschafft eine Übersicht, wo welche Gebäude des Bauwerks Schweiz abgerissen werden. Durch die wachsende Sammlung wird das Thema Abbruch aus der Abstraktion geholt und eine persönliche Betroffenheit bei Eintragenden wie Besuchenden der Website erreicht.
Sommer – Herbst 2022
im S AM und online unter www.campax.org
Petition ‹Fertig mit dem Abrisswahn – zukunftsfähig Bauen jetzt!› Eine, mit der Eröffnung der Ausstellung lancierte, Petition fordert die Schweizer Politik zum Handeln auf: Countdown 2030 und alle Unterzeichnenden fordern in 5 konkreten Punkten das Parlament und den Bundesrat dazu auf, den unhinterfragten Abriss von Gebäuden und die massive Verschwendung von Ressourcen und Energie beim Bauen zu stoppen. Forderungen: (1) Abriss als Ausnahme, (2) Fertig mit Fehlanreizen, (3) Mehr Bauen im Bestand, (4) Klare Ziele für alle Bauten, (5) Die öffentliche Hand geht voran.
2022 – 2029
schweizweit: Bauplakate
Grossformatige Baustellenblachen machen Alternativen zum Abbruch in der ganzen Schweiz sichtbar: Die Botschaft ‹Umbau statt Abbruch› wird schweizweit in die Gesellschaft getragen. Die Plakate an den Baustellen werden über die nächsten Jahre immer weiter verwendet und machen so eine Sammlung realisierter Alternativen zum Abbruch sichtbar.
‹DIE SCHWEIZ: EIN ABRISS› BEGLEITPROGRAMM UND VERMITTLUNG
Das S AM legt besonderen Wert auf die Vermittlung von Ausstellungsinhalten durch
Veranstaltungen und möchte den thematischen Diskurs mit der breiten Öffentlichkeit anregen.
- 2.9.2022, 19 Uhr
Öffentliche Vernissage - 15.9. (D), 29.9. (F),13.10. (E od D), 18 Uhr
Führungen durch die Ausstellung ‹Die Schweiz: Ein Abriss› - 6.9.2022, 17-18.30 Uhr
Einführung für Lehrpersonen in die Ausstellung ‹Die Schweiz: Ein Abriss›
Anmeldung: education@sam-basel.org - 11.9.2022, 15–16 Uhr
Familienführung ‹Konstruktion und Dekonstruktion› - 15.10.2022, 14–17 Uhr
D’où vient ma maison ? Woher kommt mein Haus?
Im Rahmen von ‹die Architekturtage 2022› entdecken wir auf spielerische Weise das Vorleben
der Materialien eines Abriss-Gebäudes. Welche Reise erlebten die Baumaterialien bevor sie
verbaut wurden? Welche sekundären Ressourcen wurden bei der Produktion verwendet?
Mit: Collectiv ‹Lost&Find›, Verein Countdown 2030, Architekt*innen
Für Kinder und Erwachsene
Anmeldung: now@countdown2030.ch - 23.10.2022, 15 Uhr
Tandem-Führung: ‹Kultur unter einem Dach›
im S AM & Kunsthalle