Es sorgte für viel Aufsehen. Ein Wohnhaus, das viele Konventionen in Frage stellt. Die Rede ist vom Neubau der Genossenschaft Coopérative d’ateliers auf der Erlenmatt. Architekt Heinrich Degelo entwickelte nach dem «EasyJet-Prinzip» ein Wohnhaus, das auf jeglichen Komfort verzichtet. Nicht mal eine Heizung wurde eingebaut. Im Gegenzug resultierten minimale Baukosten. Die Bewohner sind vor einigen Monaten eingezogen – Zeit für einen Augenschein im radikalsten Wohnhaus der Stadt.
Die meisten der 36 Bewohnerinnen und Bewohner des Wohnatelierhauses auf dem Erlenmatt-Ost sind Künstler. Für diese erfüllte sich mit dem Neubau ein langersehnter Wunsch: am selben Ort Arbeiten und Wohnen. Kreativität entsteht schliesslich nicht auf Knopfdruck. Für Kunstschaffende sind die Grenzen zwischen Arbeits- und Lebensalltag oft fliessend. Und in Basel gibt es wenige Orte und Bauten, in denen sich dieses Lebensmodell zu günstiger Konditionen verwirklichen lässt. Bezahlbare Wohnateliers sind rar.
Aus diesem Grund nahm eine Gruppe von Künstlerinnen und Künstlern ihr Schicksal selbst in die Hand und gründete eine eigene Genossenschaft – die Coopérative d’ateliers. Als Bauplatz fanden sie zusammen mit dem Architekten Heinrich Degelo ein ideales Grundstück auf dem Erlenmatt-Ost-Areal. Hier waren alle Voraussetzungen für bezahlbaren Wohn- und Lebensraum gegeben: Die Stiftung Habitat vergibt die Grundstücke im Baurecht unter der Leitidee, soziale, ökologische und nachhaltige Projekte zu fördern.
Das eingangs genannte «EasyJet-Prinzip» bedeutet: Rohbau plus! Beim Innenausbau beschränkt man sich auf das Notwendigste; auf Heizung und Kühlung verzichtet man ganz. In den Ateliers bekommen die Benutzer nur Rohlinge mit hohen Decken und unverputzten Wänden; deren Inneneinrichtung können sie selber bestimmen. Jede Mietfläche verfügt über einen flexibel platzierbaren Sanitärblock, der sich aus Küchen- und Badelementen zusammensetzt.
Der Rohbau-Chic machte die Bewohner erfinderisch – wie der Blick ins Innere des Hauses ein Jahr nach Fertigstellung beweist. Mit preiswerten Dreischichtplatten aus Fichtenholz wurden da clevere Möbel als Raumteiler mit integrierter Schlafgalerie eingebaut. Dabei erweist sich die Raumhöhe von 3.45 m nicht nur aus klimatischen Gründen (Stichwort: sommerlicher Wärmeschutz) als besonders sinnvoll – viele Bewohner nahmen mit klugen Einbauten die Möglichkeit der doppelten Nutzung der Grundfläche wahr. Auf jeden Fall funktioniert die Kombination der rohen Betondecken und -böden, den nackten Kalksteinmauern mit warmen Holzflächen hervorragend – keine neue Erkenntnis zwar, aber auf jeden Fall ein Argument mehr für das suffiziente Bauen.
Die meisten Küchen haben etwas komponiert Zusammengewürfeltes, improvisiert Laborhaftes. Chromstahlflächen dominieren. Der Kühlschrank steht da auch mal unverkrampft mitten im Wohnraum. Hochschränke fehlen vielerorts gänzlich. Der Normierung der Küchen im zeitgenössischen Wohnungsbau wird hier eine entspannte Antithese der Reduktion aufs Wesentliche entgegengesetzt. Auch das spart Geld! So viel ist nach dem Augenschein vor Ort klar: Die konventionelle Einbauküche passt definitiv nicht zum Boheme-Lifestyle der Bewohnerinnen und Bewohner.
Die Elektroinstallationen werden aufputz geführt. Wobei auffallend ist, wie sparsam die meisten Bewohner Steckdosen und Schalter eingebaut haben. Wer einen Elektrorohrsalat an Wänden und Decken erwartet hatte, wird enttäuscht. Und zur Not tut’s auch ein simples Verlängerungskabel – schon ist der Strom dort, wo man ihn auch wirklich braucht. Hie und da hängt eine nackte Glühbirne von der Decke, ansonsten pflegen die Bewohner einen sparsamen Umgang mit der künstlichen Beleuchtung. Zurück zur Materialisierung: Besonders stimmungsvoll sind grosse, raumhohe Vorhänge. Die textilen Flächen schaffen einen wohltuenden Kontrast zur mineralischen Nacktheit der Räume und beeinflussen auch die Akustik merklich positiv.
Irgendwie besonders entspannt sind die Räume, die tatsächlich als Werkstatt genutzt werden, wo gesägt, gehobelt und gehämmert wird – wo es in erster Linie um das Machen und nicht um den Lifestyle geht. Hier kommt die räumliche und konstruktive Robustheit des Hauses voll zum Tragen. Kratzer und sonstige Gebrauchsspuren steckt es locker ein; die dadurch gewonnene Patina lässt das Haus sogar gewinnen.
Der Augenschein auf der Erlenmatt beweist folgendes: Die Wohnungen der Coopérative d’ateliers lassen sich durch die Bewohnerschaft hervorragend aneignen, interpretieren und vor allem: nutzen. Ob der Verzicht auf die Heizung tatsächlich funktioniert, lässt sich nach einem Winter nicht abschliessend beurteilen. Da vernimmt man unterschiedliche Stimmen – das Experiment beinhaltet immer auch das Risiko des Scheiterns, wobei man bei der Coopérative d’ateliers vom Scheitern (augenscheinlich) weit entfernt ist. Zwischenzeitliches Fazit: Experiment geglückt. Wir freuen uns auf den nächsten Besuch im radikalsten Wohnhaus der Stadt.
Text: Lukas Gruntz / Architektur Basel
Veranstaltungshinweis:
ARCHITEKTURBAR: Coopérative d’atelier – Heinrich Degelo
Wann? MO 30. März 2019, 19 H (Türöffnung: 18:30)
Wo? Didi Offensiv, Erasmusplatz 12, 4057 Basel
Link FB-Veranstaltung > https://www.facebook.com/events/2893154667395004/