«Die neuen Höchstbauten sprengen in ihrem Massstab alles Bisherige bei Weitem. Das ist eine Provokation, mit der wir fertig werden müssen. Wir sind gezwungen, ein neues Stadtbild zu entwerfen, in dem die Hochbauten an einem guten Ort stehen.» Die Worte stammen von Kunsthistorikerin Dorothee Huber. Gefallen sind sie auf dem Spaziergang, den sie zusammen mit Journalist Lukas Schmutz unternommen hat. Erschienen in der Publikation «Basel, unterwegs. 26 Spaziergänge»: Sie versammelt besondere Beobachtungen, Geschichten und Blicke auf unsere Stadt. In einer kleinen Serie publizieren wir an dieser Stelle vier ausgewählte Spaziergänge. Heute begleiten wir Dorothee Huber vor der Siedlung Hammer I auf die Erlenmatt.
Dorothee Huber wartet schon auf dem kleinen Platz vor der Hammersiedlung I, Ecke Hammerstrasse−Bläsiring. Ein Baum steht auf dem Plätzchen, ein paar Bänke darum. Da setzt sich die Architekturhistorikerin hin und erzählt, warum es ihr diese Ecke der Stadt besonders angetan hat. Zunächst in einer Rückblende auf die Entstehung vor vierzig Jahren. «Vorher wurden hier Patent-Ochsner-Kübel fabriziert», sagt Huber, «und der Verkehr rollte dicht durch die Hammerstrasse». Während sie dies sagt, ist es, als ob das wuselig Lebendige an der Ecke sich als Tonspur in die Erzählung mischt. Roger Diener, der Architekt, sei damals mit einer Idee gekommen, zu der gehörten Wohnungen verschiedenen Typs für Familien jeder Grösse, auch für Singles, dazu Ateliers. Eine kleine Allee und «tolle Grundrisse, die aus jahrhundertealter Wohnerfahrung zehren». Kein Zufall, dass sich eben diese Kreuzung für die Anlage eines kleinen Platzes anbot. So wurde der Durchgangsverkehr gestoppt und die Kreuzung ‹verkehrsberuhigt›, wie man Neudeutsch sagt, durch diesen Platz mit Baum und Bänken, auf dem Huber nun erzählt. Und etwas von der ruhigen Lebendigkeit der Tonspur kommt wohl auch direkt von ihr.
«Roger Diener war schon damals eine Referenz», sagt Huber, «und was hier passierte, war in Basel ein ganz wichtiger Schritt in der Auseinandersetzung mit der gebauten Stadt». Dorothee Huber war damals Assistentin am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der ETH Zürich und entwickelte − beispielsweise in den Basler Debatten um das Hammer-Projekt − ihr Credo: Gute Architektur kann städtisches Leben verändern. Aus dieser Überzeugung dozierte sie während drei Jahrzehnten als Professorin an der Fachhochschule in Muttenz. ‹Dozierte› ist wohl nicht das richtige Wort, obwohl sie klare Meinungen hat, ‹lehrte› trifft es sicher besser. Zwei Mädchen trottinetten um Baum und Bänke, und Huber zoomt – noch einmal wie neu auf Platz und Siedlung blickend − nun ganz auf die Gegenwart: «Es bewährt sich. Der Ort ist eine Referenz geblieben. Manchmal gibt’s Nachbarschafts-Picknicks. Kinder können spielen.» Man hätte es ihr auch ohne die Trottinett-Mädchen geglaubt.
Den Weg zur Architektur ging Huber via Kunstgeschichte. Das war kein Umweg. Die Kunstgeschichte hat ihren Sinn für Architektur- und Stadtbeobachtung geschärft und blieb eine ‹Begleitspur›. Ein wichtiges Beispiel aus dem Ping-Pong von Architektur- und Kunstgeschichte erzählt sie auf einem Abschnitt der Hammerstrasse, durch den der Verkehr auch heute noch rollt: «Die Wahrnehmung von hohen Gebäuden ist bis heute durch alte Stadtdarstellungen geprägt.» Gut zu wissen auf dem Weg zum Messeplatz, einem Angelpunkt von Hochhausbau und Stadtentwicklung. Gut auch, dass es bis da noch ein paar Blöcke sind, denn die Rückblende geht diesmal über vierhundert Jahre und zu Matthäus Merian.
Merian hat nicht nur den klassischen Vogelschauplan der Stadt kreiert, sondern auch viele Stadtbilder. Zum Beispiel ein berühmtes mit einem Bürgerpaar, das vom Bruderholz auf die Stadt hinunterblickt. «In diesen Darstellungen prägen die Kirchen und Tore das Stadtbild», sagt Huber, «und zwar als markante Silhouetten». Und damit diese so richtig einprägsam würden, trickste Merian ein bisschen. Er zeichnete die Türme nämlich höher, als sie waren. Und zog sie damit auf die Höhe ihrer Zeit, dahin, wo die zeichnerische Wolkenkratzerei Ausdruck der Verehrung Gottes wurde. Ob es dem da oben aus seiner Vogelschau gefiel, spielt hier keine Rolle. Aber denen unten gefiel es sehr. Und das war wichtig, sagt Huber: «So wurde der Eindruck von Stadt durch ihre historischen, hohen Gebäude geprägt.» Nicht nur hier: Merian malte jeder Stadt, die etwas auf sich hielt, eine überhöhte Silhouette, und dieses Bild setzte sich dann fest. «Vor allem auch bei denen, die die Stadt bewahren wollten, seit der Heimatschutzbewegung besonders.» Man habe darum Orte definiert, von denen aus man die Silhouette exakt so anschauen kann. In Basel waren das etwa die Pfalz oder der Margarethenhügel. So wanderte das Stadtbildmuster in die Postkartenzeit und vervielfältigte sich seit dann erst recht.
Wir sind in der Clarastrasse angekommen und biegen Richtung Gegenwart und Messeplatz. Hier wurden die heimatschützerischen Linien der alten Silhouetten erstmals radikal durchstossen. 2003 mit dem Messeturm, auf eine Dachkantenhöhe von 105 Metern. Das ging, weil der Ort durchaus geeignet war für den Sprung in neue Höhen. «Seit über hundert Jahren wird an der Messe gebaut. Sie hat eine wichtige Geschichte für die Stadt und für die Öffentlichkeit eine grosse Bedeutung: Insofern kam aus der Entwicklung der ‹Mustermesse› durchaus eine Berechtigung, diesen Ort so markant zu besetzen.» Und was gestalterisch herauskam, sei aller Ehren wert, meint sie. Erstens: «Es ist ein relativ diskreter Turm in seiner Ausprägung, der städtebaulich gut sitzt.» Und zweitens: «Seine Gliederung und seine architektonische Durchbildung geben ihm eine gewisse Selbstverständlichkeit.» Das könnte so auch in ihrem Architekturführer stehen: an die vierhundert Seiten kurze, bündige Texte, aber nicht brockhausig trocken, sondern als inspirierende Puzzleteile einer Stadtgeschichte und dank dieser Lebendigkeit ein Bestseller.
Bei der Selbstverständlichkeit des Turms blieb es auf dem Messeplatz aber nicht. Die Entwicklung geriet in eine bemerkenswerte Dynamik. Die Politik wollte diesen öffentlichen Pfeiler der Stadtentwicklung neben der Pharma stärken, das Unternehmen wollte weiterwachsen. Und alle glaubten, dass die Messe, vor allem die Uhren- und Schmuckmesse ‹Baselworld›, sich in noch wesentlich grösseren Dimensionen entwickeln würde. Oder sie wollten es glauben. Darum musste die neue Messehalle her. 2009 sagte das Volk Ja, und 2013 stand sie da. Doch schon 2019 war die Zukunft der ‹Baselworld› unsicher geworden und der Glaube, auf dem die Halle gebaut war, brüchig. Und so sieht das Gebäude an diesem Tag aus wie das vor dem selbstverständlichen Turm umgefallene Hochhinaus der Planung: quer und leer. Huber kommentiert: «Offenbar wechseln die wirtschaftlichen Verhältnisse heute so kurzfristig, dass Bauten unglaublich schnell schon wieder nach einer neuen Programmierung verlangen …»
Parallel dazu spielte sich an diesem Ort noch eine weitere wichtige Geschichte ab. Während der Messehalle die Bestimmung wie im Zeitraffer abhandenkam, wurde die Entwicklung des dritten Grossprojekts am Platz auf Zeitlupe geschaltet: Der Claraturm war seit 2007 geplant, und das Volk stimmte dem Projekt 2013, genau zu dem Zeitpunkt zu, als die neue Messehalle fertig war. Doch die Verteidiger des populären Eckbaus, der dem Turm weichen sollte, des Warteck-Baus von Amadeus Merian, hielten an ihrem Widerstand fest. Der Rechtsweg wurde eingeschlagen. Bis das Bundesgericht entschieden hatte, war die ‹Baselworld› schon so gut wie tot und gänzlich dann, als der Bau begann. So wächst der Claraturm als Nachbar der auf unabsehbare Zeit leeren Messehalle in die Höhe. «Es entsteht ein Turm, dem die Daseinsberechtigung an dieser Stelle wegzubrechen scheint. Dadurch bekommt er eine eigenartige Rolle.» Und mit Tiefenschärfe dazu: «Die Grenzen der Planbarkeit von Stadtentwicklung zeigen sich an diesem Ort schon sehr deutlich.»
Huber hat nun die silbergrauen Lamellen der Messehalle-Fassaden über sich, die rohen Betonträger des Claraturms hinter sich und den Messebau von Hans Hofmann von 1954 vor sich, mit der Rundhofhalle und der grossen Uhr an der Glasfassade ein selbstverständlicher Treffpunkt von Baslerinnen und Baslern. «Unter der Uhr» − ein tief in die Agenden der Bürger eingesunkenes Stück architektonischer Identität der Stadt. «Sollte die Zeit der Messe auch tatsächlich ablaufen, bei diesem Bau kann ich mir eine Umnutzung sehr gut vorstellen.» Wie unbehelligt von den Massstabs- und Zeitsprüngen am Messeplatz seither sei der Bau aus seiner Backsteinzeit ins Zeitlose gewandert und bleibe wohl der architektonische Muster-Messebau der Stadt. Huber trägt Brille, und bei allen Brillentragenden ist die Brille ein Instrument zum genauer Hinschauen. Doch selten ist sie dies so ausdrücklich, so sichtbar, wie wenn Dorothee Huber Häuser anschaut …
Wir sind an der Kreuzung Mattenstrasse−Rosentalstrasse angelangt. Die Abzweigung Richtung Roche-Baustelle wäre naheliegend: Da stehen die Hauptdarsteller des sich wandelnden Stadtbilds, die Kräne und Türme − der neue noch im roten Baukleid –, und ragen weit über das Grün der Bäume an der Mattenstrasse in den Himmel hoch. Merian würde staunen. Doch Huber schlägt etwas anderes vor: U-Turn in Richtung Erlenmatt. Sie möchte die Türme von dort aus in den Blick nehmen. So viel vorweg: «Die neuen Höchstbauten sprengen in ihrem Massstab alles Bisherige bei Weitem. Das ist eine Provokation, mit der wir fertig werden müssen. Wir sind gezwungen, ein neues Stadtbild zu entwerfen, in dem die Hochbauten an einem guten Ort stehen.»
Erlenmatt also, noch eine Grossbaustelle der Stadtplanung, ein Transformationsareal. Nur vier Blöcke sind es bis dorthin. Zuerst knapp die Geschichte der dortigen Transformation: Vor dreissig Jahren wurde der Güterbahnhof der Deutschen Bahn aufgehoben und es gab 19 Hektaren Platz für Stadtentwicklung. Jetzt ist Wohnraum für zweitausend Menschen entstanden. Ein Drittel des Areals wurde grün, auch als Kompensationsgeschäft, weil es im angrenzenden Matthäusquartier Grün nur auf Verkehrsampeln gab. Und was kam dabei heraus? «Naja, kann noch werden», sagt sie. Licht und auch Schatten also, und wie, das sehen wir gleich, denn wir sind da. Direkt beim Zugang rechts steht die neue Primarschule. «Toller Bau», findet Huber, «leider ganz am Rand des neuen Quartiers». Als Vorgeschmack auf die grundsätzlichere Kritik in Sachen öffentlicher Bauten: «Man hat es verpasst, eine öffentliche Institution mit Ausstrahlung hier anzusiedeln.» Dezentralisierung sei im Basler Städtebau die zentrale Aufgabe geworden. So wie man es nun im St. Johann mit dem Staatsarchiv und dem Naturhistorischen Museum versuche. Das hätte man auch hier tun können – oder eher müssen: «Wir müssen endlich die Stadt über ihren engsten Kern hinausdenken.» Das wäre hier im Kleinbasel noch umso wichtiger. Darum: «Nur Wohnraum. Das kann man sehr wohl kritisieren.»
Von da geht es zu den Wohnsiedlungen selbst. Sie haben sich entlang der langen Seiten des weiten Grünraums im Osten und im Westen des Quartiers entwickelt. «Erlenmatt Ost ist ein bemerkenswerter Beitrag zur Wohnungsdiskussion», sagt Huber. «Die Stiftung Habitat hat Teile des Areals gekauft, damit der Spekulation entzogen und eine gemeinnützige ‹Zwischenetage› eingezogen. Das hat interessante Sachen ermöglicht.» Genossenschaften, minimalistische Wohnformen, Gewerbe, Studenten, ein Hostel – alles auf städtisch anmutenden Wegen miteinander verbunden. Und durch gute Architektur. Das Genossenschaftshaus ‹Stadterle› mit den grünen Balkonen hat es Dorothee Huber speziell angetan. «Innen wie aussen gelungen» − das klingt fast schon hammer-mässig.
«Harter Investoren-Wohnungsbau» hingegen drüben im Westen. Huber sagt klipp und klar, dass eines der Hauptziele hier unerreicht blieb: Nicht Durchmischung sei entstanden, sondern eine Zweiklassengesellschaft. Einmal mehr. Und der Park dazwischen wirke offensichtlich nicht verbindend. Ein Beispiel dafür: Die alte Kantine der Bahn mit ihrem Charme aus der Industrie-Ära sei das einzige architektonische Überbleibsel der abgefahrenen Bahn-Zeit. «Doch es steht leer. Es ist nicht gelungen, ein öffentliches Lokal mit einer gewissen Ausstrahlung zu etablieren.» Fazit: «Es braucht unendlich viel Zeit, bis ein Quartier, das so schnell hochgezogen wurde, seine Bestimmung findet. Noch ist es nicht gut. Aber es ist noch möglich …» Langsame Urteile in Sachen Architektur, mit der Zeit als höchster Instanz.
Auf der Nordseite des Areals angelangt, erfolgt der zweite U-Turn des Spaziergangs. Hier liegt das ganze Areal offen da und im Hintergrund ist die neue Basler Hochhauskulisse zu sehen: der Messeturm und die beiden Roche-Türme, der ältere und der jüngere, der dabei ist, den älteren in der Höhe zu überholen. Die Provokation. Und nun erklärt Huber, warum sie diese Ansicht der Stadt besonders erhellend findet: «Von hier aus wird sichtbar, dass die Stadt unterschiedlich geartete Quartiere hat. Mit je eigenen Voraussetzungen und eigenen Charakteren. Und es wird auch sichtbar, dass die Stadt in Bewegung ist.» Da müsse auch die Stadtbeobachtung sich selbst in Bewegung setzen, wegkommen von statischer Anschauung und von der Fixierung auf Höhenmarken. Das sei ganz wichtig, gerade jetzt. «Es ist eine profunde Änderung des Stadtbilds im Gang.» Was wird dabei herauskommen? «Keine Prognose. Doch den Wandel zu beobachten, ist sehr anregend.»
Dann, im Weitergehen, meint sie: «Ist doch bemerkenswert, wie die Türme Orientierung schaffen in der Stadt. Sie bieten Merkpunkte an. Von eigentlich fast überall.» Und in Basel sei diese Orientierungshilfe ganz besonders hilfreich, denn das Rheinknie mache das Zurechtfinden in der Stadt schwierig. Es verdrehe irgendwie die Achsen der Orientierung. «Mir fällt aus dieser Perspektive auf, wie die Messe und die Roche-Türme in grosse Nähe zueinander rücken.»
Es ist Abend geworden. Die Trottinetts auf dem kleinen Platz am Bläsiring sind weg. Auf den Bänken ein paar Männer, einer raucht. «Danke und auf Wiedersehen», vor der Haustür der Hammersiedlung. Dorothee Huber wohnt hier. Vierter Stock, toller Grundriss, und ganz in der Architektur daheim.
Text und Fotos: Lukas Schmutz
Basel aus überraschenden Perspektiven – 26 Spaziergänge durch die Stadt
Seit Jahrzehnten gilt Basel städtebaulich und kulturell als ein Ort des beständigen Wandels. Der Journalist und Historiker Lukas Schmutz hat diese konstante Veränderung zum Anlass genommen, um mit verschiedensten Basler Persönlichkeiten durch seine Heimatstadt zu gehen und Gespräche mit ihnen zu führen. Daraus ist der originelle Stadtführer «Basel, unterwegs» (Christoph Merian Verlag) entstanden, der 26 Spaziergänge mit persönlichen Einblicken in das frühere sowie das heutige Basel zu einem zeitgeschichtlichen Kaleidoskop bündelt.