Dass wir an der Fassade des Basler Münsters die in Stein gehauene Szene des heiligen Martin, wie er eben seinen Mantel entzweischneidet oder jene des wagemutigen heiligen Georgs mitten im Kampf gegen einen Drachen finden, dürfte den meisten irgendwoher bekannt sein. Aber Elefanten? Vom kleinen Münsterplatz herkommend zieren je zwei Elefantenfiguren das erste und das dritte Rundfenster zur Pfalz. Etwas plump und stumpf kommen sie daher. Gut möglich, dass sich die Bildhauer im 12. Jahrhundert an hiesigen Erzählungen orientierten, schätzt Oswald Inglin in seiner neusten Publikation «Das Basler Münster und seine Geschichten». Grund für die bildhauerische Ausformulierung der Elefanten dürften die aus heutiger Sicht nicht so akkuraten Beschriebe des Elefanten sein. So meint der sogenannte «Physiologus», ein vielgelesenes Manuskript aus der Spätantike zur Anatomie des Tieres: «Die Natur des Elefanten ist aber so beschaffen. Wenn er fällt, kann er nicht wieder aufstehen. Er hat nämlich keine Gelenke in den Knien wie die anderen Tiere.»
Es sind die genau diese Geschichten und Anekdoten, die Oswald Inglin im handlichen 120-seitigen Buch zum Basler Münster sammelt und pointiert erzählt. Dabei unterteilt er die Funde in zwei Erkundungstouren: Eine äussere Betrachtung der Fassade entlang und ein Rundgang durchs Innere vom Langhaus, hoch zur Orgel und runter in die Krypta. Ohne abzuschweifen leitet Inglin die figürlichen Darstellungen her; mal legt er den Fokus auf Baugeschichtliches, etwa bei der Frage, weshalb die Turmfassade neben den roten Sandsteinen mit weissen Steinen durchsetzt ist, mal sucht er im religiösen Kontext nach Erklärungen. Eine angenehme Mischung.
Oswald Inglin macht nicht nur auf Sichtbares aufmerksam, sondern auch auf nicht mehr vorhandenes. Im Tympanon, dem Feld über dem Türsturz des Hauptportals gab es ursprünglich weitere Figuren. Wer genau hinschaut, entdeckt heute noch die Fundamente abgeschlagener Skulpturen. Im Rahmen der Reformation wurden diese Skulpturen – und eine ganze Reihe weiterer Darstellungen räumlicher und flächiger Natur abgeschlagen, demontiert und verbrannt oder mit Kalk übertüncht. Noch um 1500 in Stein geschlagen, landete der kunstvolle Fassadenschmuck bereits dreissig Jahre später auf dem Scheiterhaufen. Bildnisse und Darstellungen Gottes lehnte man fortan als «Götzenwerk» ab. Schade drum, doch zeugt das Nicht(mehr)vorhandensein dieser Bauteile ebenso von der reichen Geschichte des Basler Münsters wie jene Figuren, die noch heute zu sehen sind.
Gleich links des Hauptportals beispielsweise grüssen uns auf einem kleinen Sockel der deutsche Kaiser Heinrich II. und seine Gemahlin Kaiserin Kunigunde von Luxemburg, der Gründer und die Gründerin des Basler Münsters. Er trägt ein kleines Modell der Kirche mit sich, sie das Heinrichskreuz, eines mehrerer Geschenke, die sie zur Eröffnung des Münsters nach Basel gebracht haben sollen. Die beiden sollen eine Josephsehe geführt haben; keusch und kinderlos. Dieses Detail ist für die Darstellung am Basler Münster wichtig. Rechts des Hauptportals nämlich finden wir die Gegendarstellung. Ein freundlich, ja gar spöttisch lächelnder Mann und eine keck zu ihm rüber schauende Frau. Mit ihrer rechten Hand hebt sie ihr Kleid auf Brusthöhe leicht an. Seine Darstellung geht auf den im Johannesevangelium vorgestellten «Fürst der Welt» zurück. Die wahrhaftige Verkörperung des Teufels; zwei Schlangen und drei Kröten begleiten ihn auf seinem Rücken. Sie symbolisiert die törichte Jungfrau – deren Darstellung man mehrfach findet am Basler Münster – und lässt sich vom Fürsten verführen. Ein moralisches Lehrstück der Kirche eindrücklich in Stein gehauen.
Insgesamt führt uns Oswald Inglin, seines Zeichens Historiker und Anglist, ehemaliger Lehrer und Grossrat in Basel-Stadt, an 25 Orte im und am Basler Münster und erklärt, auch für Laien gut verständlich, was uns sonst wohl nie aufgefallen wäre. Dabei geht er nicht nur auf kirchliche Darstellungen ein, sondern reisst auch architektonische Themen an, etwa die Frage nach der Farbgebung der Kirche. Sie sah wohl nicht immer so aus wie jetzt. Innen mal weiss getüncht, dann rosa gestrichen, aussen in rotbraun. Das Thema der historischen Farbigkeit ist in der Architektur eine grosse Diskussion und wird – man erlaube den Wortwitz – gar mit religiösem Eifer geführt.
Eine angenehm kurzweilige Publikation. Das Münster als architektonisches Gesamtbauwerk ist dabei praktisch nie Thema. Pläne der Kirche gibt es, abgesehen von einem kleinen Situationsplan in der Einleitung, keine. Der Fokus liegt im Detail der figürlichen Darstellungen unbekannter Personen, Würdenträgern, Heiligen, Folterknechte oder Tieren.
Das Cover ist aus festem Papier, die Abbildungen durchgängig farbig gedruckt. Die Layoutgestaltung mit den vielen Rahmen und Feldern dürfte einem womöglich etwas gar technisch vorkommen und die Schriftgrösse des Textes hätte durchaus etwas kleiner ausfallen können. Doch soll uns das nicht stören. Neben der rezensierten deutschen Ausgabe erscheint das Buch auch in Englisch unter dem Titel «Basel Cathedral – A Guide to the Stories behind the Stones» ebenfalls im Christoph Merian Verlag.
Text: Simon Heiniger / Architektur Basel
Oswald Inglin
Das Basler Münster und seine Geschichten – ein Rundgang
120 Seiten, 129 meist farbige Abbildungen
Klappenbroschur, 16.5 × 21 cm
©2023 Christoph Merian Verlag
CHF 25.- / EUR 25.-
ISBN 978-3-85616-992-3