Das Thema ist lanciert: Unser Blick auf Claudios Arbeitsbedingungen und die zahlreichen Rückmeldungen aus unserer Umfrage zeigen, wie viele Arbeitnehmer:innen sich nicht bewusst sind, dass Sie gegenüber der Arbeitgeber:in nicht nur Pflichten – sondern auch Rechte haben. Was heisst das konkret? Im Gespräch mit Rechtsanwalt Michael Neumann überprüfen wir einige Vertragsklauseln gängiger Architektenarbeitsverträge und erfahren, dass nicht alles was im Arbeitsvertrag steht, rechtlich Bestand hat. Wir lernen beispielsweise, dass sich viele Regelungen betreffend Überstunden – egal ob im Praktikum oder in regulären Arbeitsverhältnissen – in einer rechtlichen Grauzone befinden.
Was sind die gesetzlichen Grundlagen?
Wir beginnen beim Grundlegenden: Wenn wir eine Stelle antreten, unterzeichnen wir üblicherweise einen Arbeitsvertrag, in welchem unter anderem der Lohn, die Position innerhalb der Firma und die gängigen Arbeitszeiten geregelt sind. Grundlage für den Arbeitsvertrag bildet das im Zivilgesetzbuch festgelegte Obligationenrecht (OR) und das Arbeitsgesetz (ArG). Grundsätzlich gilt für alles, was im Arbeitsvertrag nicht spezifisch geregelt ist, das Obligationenrecht. Darin sind viele arbeitsrechtliche Bestimmungen zwingend. Das heisst, sie dürfen gar nicht oder nicht zu Ungunsten des Arbeitnehmers abgeändert werden. So ist zum Beispiel in Artikel 329a im Obligationenrecht festgelegt, dass Arbeitnehmer mindestens vier Wochen Urlaub pro Jahr zustehen. Eine allfällige Abweichung im Arbeitsvertragwäre wäre also trotz Unterschrift nichtig.
In Claudios Fallbeispiel spielten die Überstunden eine zentrale Rolle. In der Architekturbranche scheinen sie an der Tagesordnung zu sein. 300 Stunden hatten sich in Claudios Fall angehäuft. Kompensieren sollte er sie mit nur einer Woche Urlaub. Wir werfen einen Blick in die Gesetzbücher: Die Pflicht Überstunden zu leisten und deren Entschädigung ist in Artikel 321c im Obligationenrecht festgeschrieben. Demnach muss der Arbeitnehmer diese Leisten sofern sie notwendig sind, und ihm nach treu und glauben zugemutet werden können.
«Wenn der Bau erst Mal angelaufen ist, gibt das (meist sehr strenge) Terminprogramm den Takt an. In der Regel kann man da mit «normalen» Pensen nicht mithalten. Überstunden sind vorprogrammiert.»
– Feedback aus unserer Umfrage
Artikel 321c und die Frage der Zumutbarkeit
Michael Neumann erklärt uns, dass die «Zumutbarkeit» ein unbestimmter Rechtsbegriff ist und im Einzelfall beurteilt wird. Auf die Beurteilung haben mitunter folgende Umstände Einfluss: Kurzfristigkeit der Anordnung, Länge der Zeitspanne, anderweitige Verpflichtungen des Arbeitnehmers (z.B. Familie), Höhe der Überstundenentschädigung und des Lohnes, Wichtigkeit und Dringlichkeit der Arbeit sowie ein Hinweis im Arbeitsvertrag, dass Überstunden anfallen können. Dies heisst zum Beispiel, dass tägliche Überstunden über einen langen Zeitraum, aber auch spontan angeordnete Mehrarbeit bei familiären Verpflichtungen, sowie unbezahlte Überstunden bei einem niedrigen Praktikantenlohn in den nicht zumutbaren Bereich fallen. Einem gutverdienenden Projektleiter oder einem Entwurfsarchitekten kurz vor der Wettbewerbsabgabe können Überstunden hingegen zugemutet werden, sofern sie eine notwendige Ausnahme darstellen. In der beschriebenen Regelmässigkeit wären Claudios Überstunden rechtlich auf jeden Fall anfechtbar gewesen.
«60h sind für den Arbeitgeber, die übrigen Stunden können teilweise kompensiert werden. Bedingung ist allerdings; im selben Jahr, wo sie geleistet wurden. Ansonsten sind sie weg. Schwierig ist es für die Personen, die um die 200 Überstunden angesammelt und erst Ende Jahr langsam Gelegenheit hätten diese zu beziehen, jedoch nie alle.»
– Feedback aus unserer Umfrage
Kompensation oder Auszahlung mit Zuschlag
In Claudios Fall kamen verschiedenen Punkte hinzu, die im Arbeitsgesetz definiert werden – und klar gegen das Arbeitsgesetz verstossen. Anders als das Obligationenrecht ist dieses in jedem Fall bindend und kann auch mit Einwilligung beider Vertragsparteien nicht übergangen werden. Der Arbeitgeber macht sich unter Umständen also strafbar, wenn er das AR nicht einhält. Hier werden unter anderem die Maximalarbeitszeiten, gesetzliche Ruhezeiten und die Unterscheidung von Überstunden und Überzeit definiert. Michael Neumann erklärt uns: Wenn es im Arbeitsvertrag zum Thema Überstunden keine Regelung gibt, gilt grundsätzlich das Obligationenrecht. Überstunden müssen gemäss OR mit Einverständnis des Arbeitnehmers in einem angemessenen Zeitraum durch Freizeit gleicher Dauer kompensiert werden oder durch den Normallohn samt Zuschlag von mindestens einem Viertel ausbezahlt werden. Wichtig ist, dass Überstunden durch den Arbeitgeber angeordnet werden müssen, damit diese geleistet werden dürfen. Als Anordnung zählt aber bereits die Möglichkeit der Einsichtnahme des Chefs in den Stundenrapport, in welchem die Überstunden ersichtlich sind. Widerspricht er nicht, gilt die Mehrarbeit stillschweigend als akzeptiert.
Eine wichtige Unterscheidung: Überstunden und Überzeit
In vielerlei Verträgen finden sich jedoch Klauseln, dass Überstunden generell unbezahlt zu leisten sind. In diesem Fall wird alles etwas komplizierter, denn das Arbeitsgesetz unterscheidet zwischen Überstunden und Überzeit. Als Überzeit gilt jene Arbeitszeit, welche die wöchentlich festgelegte Höchstarbeitszeit überschreitet. Diese Beträgt für Büroberufe, also auch Architekten, 45 Stunden pro Woche bei einem Pensum von hundert Prozent.
Rechtliche Grauzone: Lohn für die ersten 60 Stunden Überzeit?
Bei einer vertraglich vereinbarten Wöchentlichen Arbeitszeit von 42.5 Stunden pro Woche fallen also die ersten zweieinhalb Mehrstunden in den Rahmen der Überstunden, erst danach wird Überzeit geleistet. Für die Überzeitarbeit ist gemäss Arbeitsgesetz ebenfalls ein Lohnzuschlag von mindestens 25% geschuldet, jedoch nur für die Überzeit die 60 Stunden pro Kalenderjahr überschreitet. Vor allem bei diesem Artikel ist das Gesetz sehr unklar formuliert, erklärt uns Michael Neumann. Artikel 13 sage, dass ein Zuschlag in den ersten 60 Stunden Überzeitarbeit nicht geschuldet wird; er formuliert aber auch nicht explizit, dass überhaupt ein Lohn dafür zu entrichten ist. Arbeitnehmerunfreundliche Verträge, so auch der Standard-SIA-Vertrag, schliessen die Lohnzahlung innert dieser ersten 60 Stunden komplett aus, was in Neumanns Einschätzung rechtlich fragwürdig ist – und nicht dem Sinn und Zweck des Arbeitsgesetzes entspricht. Momentan fehlt hierzu jedoch eine klare gerichtliche Rechtsprechung.
«Seit Juni 2022 werden 20 Überstunden pro Monat nicht mehr kompensiert. Unfassbar. Habe deshalb gekündigt»
– Feedback aus unserer Umfrage
Maximal zwei Stunden Überzeit pro Tag
Überzeitarbeit darf nicht beliebig angeordnet werden. Pro Tag darf ein Arbeitnehmer maximal zwei Stunden Überzeitarbeit leisten. Im ganzen Jahr maximal 170 Stunden. Der Arbeitgeber steht in der Pflicht dies zu kontrollieren und macht sich andernfalls strafbar. Wird Überzeit durch Freizeit kompensiert, hat die Kompensation innert 14 Wochen nach Leistung der Überzeit zu erfolgen. Sie kann also nicht ewig aufgeschoben werden. Eine Vertragsklausel nach der geleistete Überstunden und Überzeit am Ende des Jahres verfallen, ist ebenfalls rechtswidrig. Gemäss Obligationenrechte verfallen Forderungen aus dem Arbeitsverhältnis (zu denen auch Überstunden zählen), erst nach fünf Jahren.
Streng verboten: Sonntagsarbeit und Nachtarbeit ab 23 Uhr
Auch Sonntagsarbeit ist laut Arbeitsgesetz verboten und darf nur mit behördlicher Bewilligung und einem Lohnzuschlag von mindestens 50 % im Einverständnis des Arbeitnehmers verrichtet werden. Nachtarbeit nach 23 Uhr ist ebenfalls untersagt. Auch klar geregelt ist, dass die Höchstarbeitszeit am Tag nicht mehr als 14 Stunden betragen darf und anschliessend eine Ruhezeit von mindestens 11 Stunden zu erfolgen hat. Ausnahmen sind wenn überhaupt, nur unter strengen Voraussetzungen erlaubt. Dass also für eine Abgabe Nächte durchgearbeitet werden, um nach fünf Stunden Schlaf wieder im Büro zu stehen, ist per Gesetz nicht erlaubt. In Claudios Fall sind nicht nur die unbezahlten Überstunden zu hinterfragen, sondern auch die Einhaltung der Ruhezeiten und Höchstarbeitszeiten. Das Arbeitsgesetz soll schliesslich die Arbeitnehmer:innen vor gesundheitlichen Folgen schützen, die eine Überlastung am Arbeitsplatz mit sich zieht. Dies ist letzten Endes auch im Interesse des Arbeitgebers, da die Arbeitsqualität bei Überlastung und Krankheit ebenso abnimmt. Dass in unserer Umfrage über die Hälfte der Teilnehmenden angaben, auf einer Stressskala von 1-10 bei sieben und höher zu stehen, sollte uns zu denken geben.
«Circa 10% der Überstunden werden dem Büro geschenkt. Darüber hinaus wird ausgezahlt.»
– Feedback aus unserer Umfrage
Gerichte stehen auf der Seite der Arbeitnehmer:innen
Michael Neumann erklärt uns, dass Streitigkeiten zwischen Angestellten und Arbeitgeber in der Mehrheit der Fälle zu Gunsten der Arbeitnehmer:innen entschieden werden, insbesondere in Fällen von klar dokumentierter und nicht durch den Arbeitgeber widersprochener Überzeit. Ein Grossteil der Angestellten steht aber kaum für die eigenen Rechte ein – aus Angst davor, keine Anstellung mehr zu finden. In der Architekturszene kennt man sich. Streitigkeiten mit dem ehemaligen Arbeitgeber werfen im nächstens Bewerbungsverfahren allenfalls ein schlechtes Licht. So ist eine Konfliktlösung im Dialog eher anzuraten als der direkte Gang zum Anwalt. Dennoch ist es wichtig, seine Rechte zu kennen – und dafür einzustehen. Dass die Arbeitsbedingungen in direktem Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Strukturen unserer Branche stehen, macht alles nicht einfacher. Trotzdem darf dies nicht in ungesunden und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen führen. Diesbezüglich besteht viel Diskussions- und Aufholbedarf.
Text: Daniel Gass und Lukas Gruntz / Architektur Basel
LET’S TALK ABOUT MONEY!
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