«Ihr habt die ganze Nacht» – Druck, Konkurrenzkampf und 300 unbezahlte Überstunden

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«Wieviel verdienst du so?» «Wie sind bei euch im Büro die Überstunden geregelt?» «Bekommst du einen Dreizehnten?» Über Geld spricht man nicht. Zumindest in der Schweiz. Das ist auch in Architekturbüros nicht anders. Und dennoch ist es ein Thema, das vielen unter den Nägeln brennt. Im Vergleich zu anderen Berufsgruppen mit Hochschulabschluss verdienen ArchitektInnen wenig. In einer Artikelserie widmen wir uns dem Thema der Arbeitsbedingungen in der Architektur. Überstunden, Konkurrenzkampf, Leistungsdruck gehören oft zum Alltag. Im heutigen Artikel dokumentieren wir einem konkreten Fall aus Basel.

Eins vorneweg: Dass wir keine Namen nennen, dient dem Schutz aller Beteiligten. Es geht nicht darum, mit dem Finger auf schwarze Schafe zu zeigen. Im Gegenteil: Wir wollen die strukturellen Probleme unserer Branche diskutieren. Dass es dabei einigen Diskussionsbedarf gibt, zeigte sich bereits an unserer Redaktionssitzung. Überstunden gehören zu unserem Beruf dazu, meinten die einen. Wir brauchen bessere Honorarkonditionen, damit endlich höhere Löhne möglich sind, sagten die anderen. Wir diskutierten kontrovers. Eins ist klar: Architektur bedingt einen kreativen Prozess, der sich nicht ökonomisieren lässt. Echtes baukulturelles Schaffen ist oft ineffizient. Und dennoch: Die hohe Arbeitsbelastung bis hin zur Selbstausbeutung ist problematisch. Ausserdem gibt es arbeitsgesetzliche Vorgaben, die eingehalten werden müssen. Alles andere ist illegal.

«Wenn du nicht zufrieden bist, warten zehn Personen vor der Tür, die deine Stelle gerne übernehmen.»

Wir treffen uns auf ein Bier. Es gehe ihm gut, sagt Claudio B.* und lächelt. Inzwischen habe er sich erholt und eine neue Stelle angetreten. Er arbeitet nun in einem kleineren, ambitionierten Basler Architekturbüro. Dort sei der Druck weniger hoch, obwohl er als Projektleiter mehr Verantwortung trage. Er würde auch weniger Überstunden machen, was nicht heisse, dass seine Arbeitsleistung schlechter wäre. Im Gegenteil. Die Motivation sei höher und entsprechend auch seine Leistungsbereitschaft grösser.


Wir blicken zurück. Bei seinem vorherigen Arbeitgeber* war das anders. Der Druck war allgegenwärtig. Seine Vorgesetzten liessen ihn wissen: «Wenn du nicht zufrieden bist, warten zehn Personen vor der Tür, die deine Stelle gerne übernehmen.» Die Drohgebärde habe funktioniert. «Der Projektleiter kam zu uns und sagte: Morgen um 8:00 haben wir Besprechung mit dem Chef. Wir müssen dies und jenes bereit haben. Ihr habt die ganze Nacht. Am Ende war es oft so, dass die Besprechung gar nicht stattfand oder verschoben wurde.» Auch die Mittagspausen seien rar gewesen, da die Sitzungen oft direkt im Anschluss angesetzt wurden. «Wenn wir um 14:00 eine Besprechung mit dem Chef hatten, hat davor niemand Mittag gegessen, weil wir die Sitzung vorbereiten mussten. Als ich einmal dennoch Mittagspause gemacht hatte, galt ich als der Rebell des Büros.»

«Wir haben alle Stunden aufgeschrieben. Die Überstunden waren für die Personalabteilung also ersichtlich.»

Claudio arbeitete viel. Sehr viel sogar. Oft war er spätabends oder am Wochenende im Büro anzutreffen. Auf sein Sozialleben hatte das negative Auswirkungen. Er fand weniger Zeit für seinen Freundeskreis. «Sie sagten immer, dass ich an einem coolen Projekt arbeite, an dem viele andere auch gerne arbeiten wollen. Der Unterton war: Du hast Glück, dass du für uns arbeiten darfst.» Claudio wollte nicht undankbar sein. Entsprechend hing er sich in die Arbeit rein. Er gab Vollgas, bemerkte jedoch, wie die hohe Arbeitsbelastung an seiner physischen und psychischen Verfassung nagte. «Wir haben alle Stunden aufgeschrieben. Die Überstunden waren für die Personalabteilung also ersichtlich.» Einmal suchte er das Gespräch mit der Personalabteilung. Ihm wurde eine Woche Urlaub als Kompensation für die Überstunden gewährt. Ein Bruchteil seiner effektiven Überzeit.


An der Arbeitssituation, dem hohen Druck, änderte sich jedoch nichts. In ihm reifte der Entscheid, dass es so nicht weitergehen könne. «Nach verschiedenen Abgaben hatte ich 300 Überstunden angesammelt. Ich habe der Personalabteilung geschrieben, um das zu diskutieren. Sie antworteten, dass sie mir nochmals eine Woche als Kompensation frei geben. Damit war ich nicht einverstanden. Danach war klar, dass ich kündigen würde.» Eine Woche später reichte Claudio seine Kündigung ein. Danach ging es schnell: «Ich gab das Kündigungsschreiben am Mittag ab. Zwei Stunden später erhielt ich eine Mail, worin es hiess: «Du arbeitest ab sofort nicht mehr für uns». Ich wurde freigestellt. Meine Verbindung zum Server wurde gekappt. Ich musste das Büros verlassen.» Sein Abgang sei ein Eklat gewesen.

«Sie baten mich, dass ich keine weiteren rechtliche Schritte einleiten sollte. Sie versprachen mir im Gegenzug eine einvernehmliche Lösung.»

Claudio war aufgrund der rüden Kündigung verständlicherweise verunsichert. Er verliess das Büro und kontaktierte seine Rechtsschutzversicherung. «Diese hat dann im Büro angerufen. Die Juristen der Versicherung haben ihnen erklärt, dass ich meine Überstunden kompensiert oder ausbezahlt haben möchte.» Der Anruf seiner Rechtsberatung erzielte ihre Wirkung. Die Reaktion des Architekturbüros überraschte ihn: «Ein Tag später meldete sich das Büro bei mir. Sie baten mich, dass ich keine weiteren rechtliche Schritte einleiten sollte. Sie versprachen mir im Gegenzug eine einvernehmliche Lösung und luden mich ins Büro ein.» Claudio sagte zu. Er ging zurück ins Büro: «Sie hatten eine Vereinbarung vorbereitet. Sie garantierten mir die Auszahlung aller Überstunden. Für mich war das gut. Die Vereinbarung war dicker als mein Arbeitsvertrag. Ich musste zudem mein Stillschweigen erklären.» Bevor er die Vereinbarung unterzeichnete, besprach er sie mit seiner Rechtsschutzversicherung. «Die meinten, ich sollte mehr Geld verlangen. Die Überstunden vom Wochenende müssten mir zu 125% ausbezahlt werden. Ich war jedoch zufrieden mit der Vereinbarung. Ich wollte die Geschichte einfach abschliessen.» So unterzeichnet er die Vereinbarung. Alle seine Überstunden wurden ihm wie abgemacht ausbezahlt. Für Claudio nahm die Geschichte also ein gutes Ende. Konsequenzen hatte sein Aufbegehren jedoch für seine ArbeitskollegInnen: «Von ehemaligen Kollegen erfuhr ich danach, dass alle Mitarbeiter einen neuen Vertrag erhielten. Darin stand, dass Überstunden grundsätzlich nicht kompensiert oder ausbezahlt würden.»

*Name(n) der Redaktion bekannt

Text: Daniel Gass und Lukas Gruntz / Architektur Basel


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VORSCHAU

Im nächsten Artikel widmen wir uns den gesetzlichen Grundlagen. Was ist der Unterschied zwischen Überstunden und Überzeit? Wann sind diese zumutbar? Im Gespräch mit Rechtsanwalt Michael Neumann überprüfen wir einige Vertragsklauseln gängiger Architektenarbeitsverträge und erfahren, dass nicht alles was im Arbeitsvertrag steht, rechtlich Bestand hat.

 

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