Im vierten und letzten Teil des Monatsinterviews mit Meinrad Morger widmen wir uns dem Thema der Denkmalpflege. Der Erhalt von bedeutenden Baudenkmälern steht mancherorts im Widerspruch zu ökonomischen, technischen, aber auch ökologischen Vorgaben. Verdichtung und Denkmalpflege als ein Widerspruch? Nicht, wenn es nach Morger geht. Er plädiert für einen offeneren Umgang mit denkmalpflegerischen Fragen: «Denkmäler sind interessant, wenn sie leben, sich mit den gesellschaftlichen Veränderungen weiterentwickeln.» Das Gespräch führt uns von Lucca in Italien über das Basler Roche-Areal, vom Nauentor bis nach Riehen, wo Morger selbst ein Baudenkmal aus den späten 1920er-Jahren bewohnt.
Ersatzneubauten haben in Schweizer Städten Hochkonjunktur. Stehen deiner Meinung nach Denkmalpflege, auf der einen, und die Notwendigkeit zur Verdichtung, auf der anderen Seite, in einem Widerspruch?
„Das kann im Widerspruch zueinander stehen, muss aber nicht. Wenn man die Idee vom Weiterbauen am Denkmal offener, freier interpretieren würde, wäre dem nicht so. Dann sähe ich darin sogar eine grosse Chance. Kann ich das Denkmal nicht transformieren oder überformen, dann wird die Sache schwierig, nahezu hoffnungslos. Denkmäler sind interessant, wenn sie leben, sich mit den gesellschaftlichen Veränderungen weiterentwickeln. Viele Sakralbauten wurden über Jahrhunderte hinweg überformt, erweitert und sind gerade deshalb zu wichtigen Kulturdenkmälern geworden. Oft ist es genau dieses Vieldeutige, Vielschichtige, das den kulturellen Wert ausmacht. Denkmäler sind weniger interessant, wenn sie nur konserviert und ohne ihren ursprünglichen Gebrauch dastehen. Da erhoffe ich mir für die Zukunft schon eine offenere Debatte seitens der Denkmalpflege.“
Da kommt mir das berühmte Amphitheater von Lucca in den Sinn, wo die Struktur zu Wohnhäusern um- und weitergebaut wurde, wobei der ovale Platz immer noch auf die ursprüngliche, römische Architektur verweist. Das ist eigentlich viel faszinierender, als wenn dort heute die museale Ruine eines antiken Amphitheaters stehen würde.
„Ja, genau das meine ich mit Weiterbauen am Denkmal. Oder die Stadt Split, die innerhalb des Diokletian-Palastes entstand und dabei für unveränderliche Formen eine neue Nutzung, eine neue Bedeutung fand. Ein wenig anders aber doch beispielhaft zum Thema Denkmal und Verdichtung: Wir haben vor einigen Jahren in St. Gallen an einem Wettbewerb teilgenommen, wo sich auf dem Perimeter die historistische Villa Wiesental, eine typische Textil-Fabrikantenvilla, befand. Das Interieur und das Äussere waren noch weitestgehend intakt. Der Wettbewerb forderte die Verdichtung der Parzelle, ohne ein Hochhaus. Um das zu erfüllen, war ein Abbruch der Villa unabdingbar. Wir haben die Villa entgegen den Intentionen der Auslober stehen belassen, sie als Pförtnerhaus neu interpretiert und dicht daneben ein Hochhaus, dass sich aus dem städteräumlichen Bezug zu den beiden bestehenden Hochhäusern Rathaus und Fachhochschule begründen und nach unserer Einschätzung auch legitimierten liess, vorgeschlagen. Dadurch konnten wir die vorgesehene Ausnutzung erreichen und wie gesagt die Villa erhalten. Das Siegerprojekt von Caruso St. John, das die Villa abgebrochen hatte und kein Hochhaus vorsah, ist dann am heftigen Widerstand gescheitert.“
«Ich selbst fahre fast täglich mit dem Fahrrad bei der Solitüde vorbei und kenne den Dichtestress an den vielen schönen Sommermonaten. Den bestehenden Park substantiell erweitern und das Areal öffnen: das ist doch eine einmalige städteräumliche Chance.»
Mit Blick auf Basel: Die Roche möchte ein Tabula Rasa zum Rhein hin. Zwischen Grenzacherstrasse und Rheinpromenade soll hochwertige Baukultur – Bauten von Salvisberg und Rohn – abgebrochen werden. Macht das Sinn? Der Denkmalrat hat inzwischen Widerspruch angemeldet …
„ … ich kenne die Geschichte nur aus den Medien. Ich kann verstehen, dass ein Abbruch der von Dir erwähnten Bauten eine Diskussion entfachen und dass der Denkmalrat eine mögliche Unterschutzstellung prüfen wird. Es handelt sich immerhin um frühe exemplarische moderne Laborbauten der Pharmaindustrie. Ausserdem geht es um das Hochhaus von Roland Rohn, dass durch das erste neue Roche-Hochhaus zwar ein wenig zu einer Karikatur verkommen ist. Roche ist in einer substantiellen Wachstumsphase. Das ist gut für das Unternehmen und gut für Basel. Die erwähnten Bauten genügen heutigen Anforderungen scheinbar nicht mehr. Ich persönlich würde einen Abriss verstehen, weil ich die Idee eines neuen Parks am Rhein grossartig finde. Ich selbst fahre fast täglich mit dem Fahrrad bei der Solitüde vorbei und kenne den Dichtestress an den vielen schönen Sommermonaten. Den bestehenden Park substantiell erweitern und das Areal öffnen: das ist doch eine einmalige städteräumliche Chance. Es muss jedoch garantiert sein, dass die Anlage tatsächlich öffentlich wird. In diesem Fall ist der Mehrwert für die Stadt grösser als das Opfer das mit dem Abbruch der Bauten verbunden wäre.“
Ich bin da ehrlich gesagt etwas skeptischer. Wenn es der Roche mit der Park-Idee ernst ist, dann muss der 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche zu hundert Prozent öffentlich zugänglich sein. Sonst braucht es wieder irgendeine Form von Zaun oder Mauer, um den Park nachts von der Solitude abzugrenzen.
„Ich gehe sowieso davon aus, dass die Industrie-Areale zukünftig öffentlich zugänglich sein können. Heute kann das doch technisch gelöst werden – ohne physische Abtrennung der Areale.“
«Schlussendlich geht es um eine allumfassende Gesamtbilanz, die den Entscheid bestimmen soll. Sollte sich ein Abbruch hiernach nicht vermeiden lassen, wird abbaubares oder recyklierbares Material bei Neubauten wieder Verwendung finden.»
Was bleibt, ist die ökologische Frage. Die ganze graue Energie, die in den Bauten steckt, und bei einem Abbruch mehr oder weniger verloren ginge. Ist es nicht absurd, all das Material, all diese in den Bauten gebundene Energie, zu zerstören?
„Das ist jetzt eine andere Ebene der Diskussion. Isoliert betrachtet, ist Deine Einschätzung wohl richtig. Im Kontext der Roche-Bauten geht es um eine Güterabwägung: Einerseits wird graue Energie durch den Abbruch zerstört – andererseits entsteht durch den neuen Park am Rhein eine nicht zu unterschätzende zusätzliche Lebensqualität für die Stadt Basel.“
Das mag sein. Aber nochmals das Beispiel von Lucca: Dort war das Weiterbauen auch rein ökonomisch naheliegend, weil die Steine, das ganze Baumaterial bereits da waren. Heute ist die Variante Abbruch und Ersatzneubau oft günstiger – beziehungsweise rentabler. Man fragt viel seltener, wie könnten wir die Betonstruktur erhalten oder sie sogar weiterbauen?
„Ist es nicht inzwischen so, dass diese Frage immer mehr auch gestellt wird? Wir müssen uns diesen Fragen sicherlich stellen und die Energie- und Ressourcenproblematik sehr ernst nehmen. Schlussendlich geht es um eine allumfassende Gesamtbilanz, die den Entscheid bestimmen soll. Sollte sich ein Abbruch hiernach nicht vermeiden lassen, wird abbaubares oder recyklierbares Material bei Neubauten wieder Verwendung finden. Das daraus resultierte Delta der freigesetzten CO2-Emmission könnte zum Beispiel an geeigneter Stelle durch grossflächige Waldaufforstungen kompensiert werden.“
«Es wäre problematisch, wenn eine ganze Epoche verschwindet, nur weil die Bevölkerung nichts damit anfangen kann. Ich bin froh, dass beispielweise das ehemalige Felix Platter-Spital erhalten und umgenutzt werden kann.»
Herausragende Architektur der Nachkriegsmoderne hat in der Bevölkerung oft einen schweren Stand. Ihre Bedeutung zu vermitteln, ist nicht einfach. Und so ging in Basel auch schon einiges aus dieser Epoche verloren. Ich denke an das abgerissene Bâloise-Bürohaus von Hermann Baur, das Hilton von Rickenbacher daneben oder zuletzt die Nachricht des drohenden Abbruchs der grossartigen Werkhalle von Heinz Hossforf auf dem Voellmy-Areal. Inwiefern ist es dennoch sinnvoll, sich für den Erhalt dieser Bauten einzusetzen?
„So wie die Bausubstanz aus dem Mittelalter, aus der Gründerzeit oder aus der Moderne betreffend Denkmalwürdigkeit selbstverständlich untersucht und beurteilt wird, so sollen die Bauten der Nachkriegsmoderne inzwischen aber auch Bauten der 1960-1970er Jahre in die Betrachtung mit einbezogen werden. Es wäre problematisch, wenn eine ganze Epoche verschwindet, nur weil die Bevölkerung nichts damit anfangen kann. Ich bin froh, dass beispielweise das ehemalige Felix Platter-Spital erhalten und umgenutzt werden kann. Es gibt in Basel diesbezüglich aus fast allen Epochen herausragende Vorbilder: Der Engelhof aus dem frühen 14. Jahrhundert, der durch Silvia Gmür in den 1990er Jahren zum Deutschen Seminar der Universität Basel umgebaut wurde oder das Warteckareal, wo Diener & Diener substantielle Teile der ehemaligen Brauerei erhalten liess – und gleichzeitig neu gebaut und nachverdichtet hat. Daraus ist eine wunderbare Symbiose aus Wohnen, Arbeiten und Kultur entstanden. Bei der Bâloise ist es anders gekommen. Dort sollte das Hilton vorerst erhalten bleiben. Untersuchungen haben jedoch gravierende Mängel bei der Erdbebensicherheit festgestellt. Dadurch ist indirekt auch das Bürohaus von Hermann Baur zum Opfer gefallen. Das ist sicherlich schade. Auf dem Voellmy-Areal ist mir der elegante Ausstellungspavillon präsenter als die Werkhalle von Hossdorf. Ein Bebauungsplan könnte unter Umständen die Bedürfnisse der Bauherrschaft und die der Denkmalpflege unter einen Hut bringen! Diese Option sollte in solchen Fällen immer ernsthaft geprüft werden. Wie gesagt: Auf jeden Fall braucht es eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Architektur der Nachkriegsmoderne und der 1960-1970er Jahre. Daraus sollte sich die Frage vom Erhalt oder vom Abbruch klären.“
Wie geht ihr mit diesen Fragen beim Nauentor, dem Umbau des Postreitergebäudes von Suter+Suter um?
„Beim Nauentor bleibt die zweigeschossige Gebäude-Brücken-Struktur, die sich über die Geleise spannt, erhalten. Darüber haben wir die Idee einer Magistrale entwickelt, wie wir sie von den Hack’schen Märkten in Berlin kennen. Über mehrere Höfe wird das Gundeli neu mit der Innenstadt verbunden. Gleichzeitig können die Perrons der SBB über diese Höfe direkt erreicht werden.“
Könnte man diese Höfe nicht in die bestehende Struktur einschneiden?
„Theoretisch lässt das die bestehende Struktur zu. Auch weil sich die Hochhäuser strukturell unabhängig in den Sockelbereich integrieren. Ich denke, dass diese Frage anlässlich der stattfindenden Projektstudien definitiv geklärt werden wird.“
«Seit sieben Jahren wohnen wir im Haus Huber. Es ist eine radikale Antithese zu einem repräsentativen Bürgerhaus. Es fokussiert sich in experimenteller Form auf die Grundfragen des Wohnens.»
Du hast einen alltäglichen Zugang zur Denkmalpflege. Du bewohnst das Haus Huber in Riehen, das von Artaria & Schmidt 1929 erbaut wurde. Eine echte Ikone der frühen Moderne in Basel. Wie lebt es sich im Baudenkmal?
„Gut. Seit sieben Jahren wohnen wir im Haus Huber. Es ist eine radikale Antithese zu einem repräsentativen Bürgerhaus. Es fokussiert sich in experimenteller Form auf die Grundfragen des Wohnens. Zur damaligen Zeit war das schon revolutionär. Das Haus diktiert ein Stückweit unser Wohnen. Man lebt in kleinen, knapp aber wohlproportioniert geschnittenen Räumen. Trotz strenger Struktur sieht jeder Raum leicht anders aus, hat seine eigene Konstellation. Wichtig sind auch die verschiedenen gedeckten Aussenräume zwischen Esszimmer und Küche, zwischen Bad und Schlafzimmer, bei der Auskragung im Gartengeschoss und auf der Dachterrasse. Viele Details sind ebenso experimentell ausgeführt.“
«Das Haus lässt sich nicht optimal isolieren. Zu ganz kalten Jahreszeiten ist das manchmal schon etwas lästig. Dann ziehen wir uns einfach wärmer an.»
Zum Beispiel?
„Zu erwähnen, sind die Schiebefenster aus Stahl, die heute noch einwandfrei funktionieren. Dazu geniesst man einen wunderbaren Bezug zum grossen Garten. Haus und Garten stehen in enger Beziehung. Der Sommer ist klimatisch äusserst angenehm, auch dank einer grossen Linde, die Hans Schmidt gepflanzt hat und das Haus gut verschattet. Während dieser Zeit leben wir halb im Haus und halb im Garten. Etwas schwieriger ist der Winter. Das Haus lässt sich nicht optimal isolieren. Zu ganz kalten Jahreszeiten ist das manchmal schon etwas lästig. Dann ziehen wir uns einfach wärmer an. Aber alles in allem ist das Wohnen in diesem Baudenkmal eine wichtige Erfahrung. Wir haben uns gerne darauf eingelassen und bereuen es bis anhin überhaupt nicht.“
Tönt faszinierend. Aber ist das Haus wirklich wohnlich?
„Ja, es ist wirklich wohnlich. Obwohl Hans Schmidt ja ein rationaler Systematiker war, hat das Haus unerwartet schöne poetische Seiten.“
Küche und Bad habt ihr neu interpetiert?
„Küche und Bad waren nicht mehr im Originalzustand vorhanden. Da für diese Bereiche keine verlässlichen Dokumente von 1929 zur Verfügung standen, war eine Rekonstruktion für uns ausgeschlossen. Vielmehr versuchten wir eine für das Haus richtige Interpretation. Küche, Bad und Toiletten wurden sehr zurückhaltend, sachdienlich und ohne grossen Designanspruch neu eingebaut. Schlichte Armaturen, bewährte Materialen, einfache Modelle. Neu interpretiert haben wir auch die bestehenden Radiatoren, die, um das maschinelle einer modernen Zentralheizung hervorzuheben, ursprünglich Metallfarben gestrichen waren. Das war uns aber zu mechanisch und zu wenig wohnlich. Da eine Veränderung der Original-Farbe reversibel ist, haben wir entschieden, die Radiatoren in einem zurückhaltenden Elfenbeinweiss umzustreichen.“
Welches Baudenkmal in Basel liegt dir besonders am Herzen?
„Ganz spontan. Die drei Häuser in Riehen von den Architekten Hans Schmidt und Paul Artaria: das Haus Schäfer, das Haus Colnaghi und unser Haus Huber. Es ist einmalig, was die beiden Architekten zwischen 1927 und 1929 realisiert haben und dass sich alle drei inzwischen denkmalgeschützten Häuser als bedeutende Ikonen der Moderne heute noch weitestgehend im Originalzustand befinden und die Wohnnutzung immer noch geblieben ist. Die Häuser sind nicht nur leblos konserviert – sie leben vielmehr!“
Danke für das ausführliche Gespräch! In diesem Sinne hoffen wir auf lebendige Bauten, Debatten und Begegnungen.
Interview: Lukas Gruntz / Architektur Basel
Fotos: Armin Schärer / Architektur Basel
Teil 1 > Meinrad Morger: „Es gab zwei Strömungen in Basel, die für uns beide wichtig waren“
Teil 2 > Meinrad Morger: „Auf Instagram hast du weder eine physische, haptische, noch sinnliche Erfahrung“
Teil 3 > Meinrad Morger: „Heute gibt es unter den Architekten eine Art Rockstar-Kultur“