Das Architekten-Dasein kennt viele Facetten – zwischen gefeiertem Rockstarleben und brotlosem Künstlertum. Im dritten Teil des Monatsinterview mit Meinrad Morger widmen wir uns der Star- und der Autorenarchitektur. Was die Gehrys auf der ganzen Welt so alles bauen, dem steht er eher kritisch gegenüber: «Diese Architektur ist so verführerisch und populär geworden, dass sie grosse Bevölkerungsschichten anspricht.» Ein Gespräch über Ikonen, Gewöhnliches, Renderings, Hyperrealität, die Erfindung der Perspektive, Facility Management und fehlende Risikobereitschaft.
Lukas Gruntz (Architektur Basel): Das Zeitalter, in welches ich hineingeboren wurde, war geprägt vom Aufstieg der Stararchitekten. Ich denke beispielsweise an Mario Botta, Richard Meier, Frank Gehry oder Zaha Hadid. Inwiefern helfen Stars bei der Vermittlung von Baukultur?
Meinrad Morger: „Ich glaube, dass die Starkultur, so wie sie heute funktioniert, vor allem mit der Medialisierung und Globalisierung der Welt aber auch der Architektur zu tun hat. Wenn ich an die Generation grosser Schweizer Architekten wie Ernst Gisel, Fritz Haller oder Franz Füeg denke, die während den 1950er bis 1980er Jahren ihre intensivste Arbeitsphase hatten, ging es weniger um die Person als um die Sache. Doch heute gibt es unter den Architekten eine Art Rockstar-Kultur. Diese Werke, die sich oft durch starke ikonografische Entwürfe und äusserst einprägsame Bilder auszeichnen, werden überhöht mit der Person, die hinter dem Entwurf steht. Diese Architektur ist so verführerisch und populär geworden, dass sie grosse Bevölkerungsschichten anspricht. Daraus ist nicht nur Bilbao oder Hamburg sondern ein gut funktionierender Architektur-Tourismus entstanden. Das ist alles wunderbar. Das schwierige daran ist, dass die Qualität einer Stadt nicht von den Ikonen abhängt, sondern vielmehr von schönen Strassen und Plätzen, schlichten Häusern und urbanen Bewohnern. Die Stadt lebt letztendlich vom Normalen, Alltäglichen, Gewöhnlichen. Dazu kann die Star-Architektur nur beschränkt beitragen. Sie konzentriert sich auf moderne Paläste wie Konzernsitze, Opern, Museen allenfalls noch Luxuswohnhäuser. Das Destruktive an der Sache ist, dass das Aussergewöhnliche als fantasievoll und das Gewöhnliche als fantasielos empfunden wird. Wenn das das Resultat von Stararchitektur ist, dann ist diese Entwicklung aus baukultureller Sicht fatal.“
„Der Bau von Gehry verkörpert eine Gegenwelt zur kartesianischen Koordination, die Grundlage unserer Architektur-Kultur ist. Das vertraute Bild von Architektur wird dadurch konterkariert.»
Ich kenne diese Diskussion, wenn Freunde von mir den Gehry auf dem Novartis Campus super finden und zu mir sagen: „Lukas, das ist doch einmal fantasievolle Architektur!“ Und andererseits einen Bau von Diener & Diener, sagen wir den Eckbau am Barfüsserplatz, überhaupt nicht verstehen – dessen Qualität des Normalen, des Sich-Einfügens. Da komme ich schnell in Erklärungsnot.
„Der Bau von Gehry verkörpert eine Gegenwelt zur kartesianischen Koordination, die Grundlage unserer Architektur-Kultur ist. Das vertraute Bild von Architektur wird dadurch konterkariert. Das ist schon mal attraktiv. Doch – wie erkläre ich in dem Moment einem Nichtarchitekten, dass das Gewöhnliche, das Schlichte, das Einfache auch von hoher architektonischer Qualität sein kann?“
Gute Frage. Wie erkläre ich den Unterschied zwischen dem Gewöhnlich-Banalen und dem Gewöhnlich-Anspruchsvollen?
„Die Differenz zwischen Lapidarem, also Grundsätzlichem, und Banalem, also Belanglosem, ist nicht einfach zu erklären. Ich denke, dass die Grundlage für einen qualitativen Entwurf eine eigenständige architektonische Idee ist, die alle Ebenen vom ersten abstrakten Gedanken bis zur konkreten Umsetzung begleitet und bestimmt.»
«Architektur ist im Grunde genommen eine kulturpolitische Aufgabe.»
Um auf die Frage der Medialisierung der Architektur zurückzukommen: Bereits Le Corbusier hat es meisterhaft verstanden, durch die gezielte Inszenierung, heute würde man vielleicht sagen Vermarktung, seiner Persönlichkeit und Bauten, architektonischen Einfluss zu gewinnen. Ist das legitim? Oder sollten wir Architekten uns in erster Linie auf unser Handwerk konzentrieren und unsere Bauten für sich selbst sprechen lassen?
„Le Corbusier hatte ein unglaubliches Sendebewusstsein. Er hat alle Möglichkeiten der Mitteilung verwendet, um seine Visionen zu verbreiten. Das finde ich absolut legitim – auch heute noch. Herzog & de Meuron‘s Werk besteht ja in der Tat nicht nur aus Bauten sondern wichtigen Texten, Publikationen, Gesprächen, visionären Städtebaustudien, Skizzen und Bildern. Das Werk ist mehr als nur der Entwurf von Gebäuden. Wenn es kein Geschwätz ist oder damit keine primären eigennützigen Absichten verfolgt werden, dann kann die Botschaft kulturpolitisch sehr wertvoll und wichtig sein. Es wäre sowieso an der Zeit, dass wir Architekten uns stärker kulturpolitisch einbringen. Architektur ist im Grunde genommen eine kulturpolitische Aufgabe. Natürlich gibt es auch den stummen Architekten, wie zum Beispiel Sigurd Lewerentz, der weder geschrieben, noch viel gesprochen, sondern vor allem entworfen, gezeichnet und seine Bauten auf der Baustelle intensiv begleitet hat. Diese Form der medialen Enthaltsamkeit hat wahrlich einen mystischen Reiz.“
«Es gibt für ein Bauwerk nichts schlimmeres, als wenn das gerenderte Bild qualitativ besser ist als der reale Bau.»
Heute sehe ich die Gefahr, dass man als Architekt im Kampf um Aufmerksamkeit, um Likes und Followers, seine Arbeit dahingehend optimiert, dass man in erster Linie ein möglichst starkes Bild kreiert, das möglichst viele Klicks generiert. Könnte da die Selbstinszenierung nicht auch in etwas Negatives kippen?
„Das sind die Verführungen der virtuellen Welten. Da besteht schon eine grosse Gefahr. Es gibt für ein Bauwerk nichts schlimmeres, als wenn zum Beispiel das gerenderte Bild qualitativ besser ist als der reale Bau. Das ist dann ziemlich bitter. Ich habe kürzlich von einem Gerichtsprozess gelesen, wo ein Bauherr einem Architekten vorwirft, dass der realisierte Bau in keiner Weise dem entspricht was die Renderings versprochen haben. Gerenderte Bilder sind gefährlich.“
Inwiefern gefährlich? Kannst du da ein Beispiel nennen?
„Ich war letzthin in einer Jury für ein grosses Schulhaus in Chur. Der Sieger hatte kein Rendering eingereicht, sondern ein abstraktes Modell gebaut, es fotografiert und die Bilder abgegeben. Wir waren stundenlang damit beschäftigt den Sachpreisrichtern, in diesem Fall Lehrer und Politiker, die herausragenden städteräumlichen und architektonischen Qualitäten dieses Projektes zu vermitteln. Sie waren vielmehr begeistert von den stimmungsstarken Renderings anderer Projekte. Dann kam der sonderbare Moment, wo der Stadtpräsident von Chur vor einem dieser Bilder stand und zu uns sagte: „Das kann ja gar nicht sein, dass unser Hausberg Calanca wie im Bild dargestellt so prominent hinter dem Schulhaus stehen kann. Der steht ganz wo anders.“ Daraus folgte eine Diskussion über den Wahrheitsgehalt und die Bedeutung von Renderings. Die Folge dieser Story war, dass wir uns auf die für einen Schulhausbau wesentlichen Kriterien wie Städtebau, Architektur, Typologie und Ausdruck konzentrieren konnten und die Bilder für die Entscheidung nicht mehr im Vordergrund standen. Gerenderte Bilder kreieren erträumte Hyperrealitäten, die dem Stand von Wettbewerbsprojekten im Regelfall nicht entsprechen. Sie sind Propaganda und können Fake News sein. Wettbewerbsentwürfe müssen Ideen- und Konzeptskizzen bleiben. Sie dürfen nicht zu fertigen Vorprojekten verkommen.“
„Architekturwettbewerbe müssen wieder im Sinne von Luigi Snozzi ausgeschrieben werden. Er sagte einmal: „Ich investiere zwei Wochen in einen Wettbewerb. Eine Woche denke ich – und eine Woche zeichne ich auf.“
Allgemein hat sich das Wettbewerbswesen im letzten Jahrzehnt stark verändert. Die Anforderungen werden immer komplexer. Wie nimmst du das wahr?
„Leider werden die Anforderungen wie gesagt immer umfangreicher, aufwendiger und so nicht mehr mit einem sinnvollen Aufwand leistbar. Das ist eine völlig fehlgeleitete Tendenz. Architekturwettbewerbe müssen wieder im Sinne von Luigi Snozzi ausgeschrieben werden. Er sagte einmal: „Ich investiere zwei Wochen in einen Wettbewerb. Eine Woche denke ich – und eine Woche zeichne ich auf.“ Das trifft ganz genau den wahren Kern.“
Wobei man heute eher davon ausgehen muss, dass Jurierungen künftig im virtuellen Raum mit der 3D-Brille stattfinden.
„Das hoffe ich nicht. Ich bin gegenüber diesen Entwicklungen sehr kritisch eingestellt. Mit der Zeit verlieren wir die Fähigkeit der Imagination vollständig. Wenn alles hyperreal darstellbar ist, müssen wir uns nichts nicht mehr vorstellen können. Ein Buch besteht aus Wörtern. Daraus entstehen beim Leser individuelle Bilder, eigene Vorstellungen, persönliche Geschichten. Der architektonische Plan kann dasselbe leisten. Ich schätze den Moment, wo man selbst noch nicht genau weiss, wie etwas schlussendlich wird. Die gedankliche Spekulation geht heute leider zusehends verloren.“
Du sprichst von gedanklicher Spekulation. Inwiefern verändert das Virtuelle unsere Wahrnehmung des physischen Raums?
„Ich hatte kürzlich einen Vortrag im UKBB (Anm.d.Red.: Universitäts-Kinderspital beider Basel) zur Frage, ob Räume heilen können. Durch die Recherchen wurde mir klar, dass sich spätestens seit der Erfindung der Perspektive zur Zeit der Renaissance unsere Sinne auf das Visuelle hin fokussiert haben – und die anderen Sinne dadurch in den Hintergrund gedrängt wurden. Das Habtische, das Riechen, der Geschmack oder das Hören spielen eine untergeordnete Rolle in der Architektur. Alles konzentriert sich auf das Visuelle. Mitunter deshalb habe ich so eine Freude am von uns entworfenen Kunstmuseum in Vaduz. Die glatt polierte Terrazzo-Fassade wollen alle Menschen, die das Museum besuchen, berühren. Sie beseelt eine besondere haptische Ausstrahlung. Das finde ich grossartig.“
Eine andere Frage zum Thema Autorenarchitektur: Dein Büro trägt deinen Namen. Hast du dir jemals überlegt, einen Namen zu wählen, der nicht auf deine Person verweist?
„Als wir 1988 unser Architekturbüro starteten, war das keine Frage. Nahezu alle Büros, die zu selben Zeit entstanden, trugen die Nachnamen. Das war für uns naheliegend und eben auch selbstverständlich. Die einzige Frage war die Reihenfolge der Namen. Der Klang hat schlussendlich den Ausschlag gegeben. Mit wenigen Ausnahmen war das ja auch früher so. Spontan kommt mir einzig das Atelier 5 in den Sinn. Da wäre die Aneinanderreihung aller fünf Nachnamen der Gründer vielleicht etwas umständlich geworden. Später dann kam die Zeit der kryptischen Abkürzungen: EM2N, E2A oder HHF. Wobei hinter HHF eine schöne Geschichte steh: Anscheinend soll Andreas Bründler, in dem Moment wo es um diese Frage ging, zu ihnen gesagt haben: „Eure drei Nachnamen sind ja so lange und viel zu schwierig, um sie vernünftig auszusprechen“ und hat spontan die Abkürzung der drei Anfangsbuchstaben der Nachnamen ausgesprochen.“
«Ich musste konsequenterweise zweimal den Namen ändern. Das ist mit Bestimmtheit nicht nur easy.»
Im Fall des namensgebenden Autoren wird das Architekturbüro, das ja auch eine Firma ist, aber ein Stückweit an die jeweilige Person gebunden.
„Zum Problem wird es erst, wenn Veränderungen stattfinden, wie es bei mir zweimal der Fall war. Ich musste konsequenterweise zweimal den Namen ändern. Das ist mit Bestimmtheit nicht nur easy. Da hat es ein Atelier 5 einfacher. Es hat immer noch denselben Namen, obwohl die Gründer gar nicht mehr dabei sein. Gleichzeitig weiss ich nicht mehr, was für Personen hinter dem Namen stehen. Trotz allem bevorzuge ich die traditionelle Form der Namengebung vor abstrakten Kürzeln und Begriffen. Ausserdem kann ich mir diese oftmals nicht merken. Wie heisst das bekannte Architekturbüro aus Biel nochmals?“
Du meinst :mlzd?
„Ja genau. Ein richtiger Zungenbrecher. Diese Abkürzung verwechsle ich immer mit dem Architekturbüro MVRDV aus Amsterdam.“
Ok, das verstehe ich. Wobei „made in“ aus Genf finde ich beispielsweise ziemlich gut.
„Da hast Du recht. Das ist eine schöne Idee. Der Begriff hat Schalk.“
Die Frage sei erlaubt: Du hast hier eine erfolgreiche Firma mit rund sechzig Mitarbeitern aufgebaut. Wie wird Morger Partner benannt sein, falls du einmal nicht mehr an der Front dabei bist?
„Wenn ich nicht mehr aktiv im Büro arbeiten werde, dann können meine Partner und Nachfolger den Büronamen behalten oder verändern. Aber es kann ja sein, dass ich noch sehr lange dabei bin.“
Das hoffen wir natürlich – dennoch ist das als Autorenarchitekt kein einfacher Moment. Zumthor hat ja beispielsweise entschieden, dass sein Büro nach seinem Abgang nicht weiterexistieren soll.
„Bei Zumthor sind Werk und Person ein und dasselbe. So ein Entscheid wäre ja nur die logische Konsequenz. Mein Büro ist in der Zwischenzeit so gross geworden, dass ich nicht mehr alles selbst steuern kann und will. Ausserdem möchte ich weiterhin unterrichten. Aber zurück zum Namen: Da ich über einen beschränkt narzisstischen Charakter verfüge, kann ich mir durchaus vorstellen, dass sich der Büroname bei meinem definitiven Ausscheiden auch ändert. Ein viel wichtigeres Anliegen ist mir, dass meine Partner und Nachfolger das Architekturbüro erfolgreich in eine nächste Generation führen. Mit oder ohne Namensänderung.“
«Viele Auftraggeber sind sich nicht mehr so richtig bewusst, dass ihre Immobile aus einem Baukörper mit Fassaden besteht, die dem öffentlichen Raum einen Charakter geben und dass sie deshalb einer kulturellen Verantwortung nachzukommen haben.»
Wir sprechen von Autorenarchitektur, das heisst implizit, dass es auch Architektur als reine Dienstleistung gibt. Wie definierst du den Unterschied?
„Plakativ gesagt erbringt der Dienstleister dem Auftraggeber gegenüber eine professionelle Gefälligkeit – in der Regel Managementaufgaben wie Generalplanung, Kosten, Termine, Bauleitung – ohne eigene künstlerisch-architektonische Ambition. Im Gegensatz zum Autorenarchitekt: Dieser steht als Gestalter und Kulturschaffender nicht nur gegenüber dem Auftraggeber in der Pflicht, sondern genauso auch dem kulturellen und gesellschaftlichen Kontext, indem er entwirft, plant und baut. Indem Sinne ist diese Arbeit allumfassender, universeller, komplexer und deshalb auch konfliktanfälliger.“
Welche Themen beschäftigen dich bei deiner Arbeit im Moment besonders?
„Mich beschäftigt, dass immer mehr Auftraggeber, in erster Linie institutionelle Bauherren, kein Arbeitsverhältnis mehr mit dem Architekten suchen, sondern dieses dem TU (Anm.d.Red.: Totalunternehmer) unterstellen. Der TU garantiert dem Auftraggeber gegenüber Kosten, Termine und ein möglichst unterhaltsarmes Gebäude. Ein architektonischer Anspruch wird kaum noch geltend gemacht. Mit Ausnahme der eingangs besprochenen Stararchitektur, wo das zumindest für die Erscheinung sogar explizit gefordert wird. Viele Auftraggeber sind sich nicht mehr so richtig bewusst, dass ihre Immobile aus einem Baukörper mit Fassaden besteht, die dem öffentlichen Raum einen Charakter geben und dass sie deshalb einer kulturellen Verantwortung nachzukommen haben. Dasselbe gilt auch für die Innenräume. Alles muss billig (günstig ist schon zu teuer!) und unterhaltsfrei sein. Darunter leidet die räumliche Qualität aber auch die Handwerkskultur. Was ist das für eine Botschaft an die Öffentlichkeit, an die Bewohner, an die Handwerker? Diese Tendenz führt unweigerlich zu einem bedauernswerten Kulturverlust. Im Weiteren stelle ich mir oft die Frage, ob meine Idee von Architektur noch zeitgemäss ist und nicht schon längst aus der Mode. Und immer wieder komme ich zum Schluss, dass dem nicht so ist. Da ich mich bis anhin weniger mit stilistischen Fragen auseinandergesetzt habe und Architektur vielmehr aus einer Haltung heraus verstehe, bin ich zuversichtlich, dass unsere Arbeiten nachhaltig wirken. Ist es nicht schlimm, wenn ein Bauwerk nicht mehr angeschaut werden möchte, weil es aus der Mode gekommen ist? Und: ist es nicht wunderbar, wenn ein Bauwerk eine datierbare Zeitlosigkeit ausstrahlt?“
“Es ist fahrlässig und auch nicht nachhaltig, wenn wir potemkinsche Städte bauen, wo hinter den Fassaden keine Sinnlichkeit, keine Wohnlichkeit, keine Lebendigkeit mehr stattfindet. Das verunsichert mich zusehends.“
Du hast von der kulturellen Verantwortung der Auftraggeber gesprochen. Kann es sein, dass insbesondere institutionelle Bauherrschaften heute oft anders organisiert, anders aufgestellt sind als früher?
„Bei Institutionellen Auftraggebern gibt es den klassischen Bauherrn ad personam kaum mehr. Es sind vielmehr Bauherrenvertreter, die die Planung und Realisierung begleiten. Das Facility Management hat dabei eine bestimmende Dominanz bekommen. Der effiziente Unterhalt wird immer öfter höher gewichtet als eine die Sinne anregende Wohnqualität. Danach muss sich die Konstruktions- und Materialauswahl richten. Die allumfassenden Überlegungen der Architekten werden zusehends ignoriert. Nur ein Beispiel: Ein Abrieb mit grobem Korn mag vielleicht den Unterhalt minimieren (obwohl diese Behauptung sehr umstritten ist!), er leistet aber definitiv keinen Beitrag zu einer lebenswerten Wohnung. Da kannst du noch lange argumentieren: „Was ist das für ein Gefühl, wenn man beim zufälligen Berühren der groben Wand die nackte Haut unweigerlich verletzt? Das ist doch unangenehm und unsinnlich zugleich, oder?“ Es ist fahrlässig und auch nicht nachhaltig, wenn wir potemkinsche Städte bauen, wo hinter den Fassaden keine Sinnlichkeit, keine Wohnlichkeit, keine Lebendigkeit mehr stattfindet. Das verunsichert mich zusehends.“
Ich denke, das hat vielleicht auch mit dem zunehmenden Mangel an Risikobereitschaft zu tun, den ich in unserer Gesellschaft vielerorts feststelle – sei es in der Politik oder Wirtschaft.
„Mein Vater war Jurist. Er hat im hohen Alter feststellen müssen, dass es das Schicksal in unserer Gesellschaft immer weniger, dafür aber immer mehr den Schuldigen gibt. Wenn sich ein Bauherr früher gegenüber einem Bauschaden eher noch kulant verhalten hat – so verlangt das System heute nach einem Schuldigen, weil die Versicherung den Schaden sonst nicht übernimmt. Die angelsächsische Rechtspraxis ist längst bei uns angekommen und verändert vieles radikal. Mussten wir am Anfang unserer Selbständigkeit noch keine Anwaltskosten ins Budget aufnehmen, so sind es heute sehr hohe Beträge geworden. Der Mangel an Risikobereitschaft führt zu einer Null-Risikogesellschaft, wo keine Vision, kein Experiment, keine Pflege, keine Patina, kein Altern, kein Dreck… kein Leben mehr erwünscht ist!“
Interview: Lukas Gruntz / Architektur Basel
Fotos: Armin Schärer / Architektur Basel
Teil 1 > Meinrad Morger: „Es gab zwei Strömungen in Basel, die für uns beide wichtig waren“
Teil 2 > Meinrad Morger: „Auf Instagram hast du weder eine physische, haptische, noch sinnliche Erfahrung“