“No, la casa no ha estado aquí durante mucho tiempo”, sagt die ältere Frau und lächelt freundlich. Das Haus stehe hier schon länger nicht mehr. Ich befinde mich an der Strassenecke der Calle San Borja und der Avendia Gabriel Mancera in Mexiko-Stadt. Soeben hatte ich ihr ein Foto des “Zwillingshauses” gezeigt, das hier einst stand. Es stammte aus der Feder der beiden Basler Architekten Paul Artaria und Hans Schmidt – und gilt als das erste moderne Haus Mexikos. Ich begebe mich auf Spurensuche.
Wir befinden uns wenige Kilometer südlich der historischen Altstadt. Vor hundert Jahren war das Gebiet noch mehrheitlich Brachland – das sich jedoch rasend schnell zum beliebten Quartier der oberen Mittelschicht, Colonia del valle, entwickeln sollte. 1927 wurde hier der “Clubo Suizo”, das Lokal des Schweizer Vereins, eröffnet – und zahlreiche Mitglieder der Schweizer Diaspora zogen in die Gegend. Bis heute zeugt die im Quartier ansässige Schweizer Schule, das Colegio Suizo de México, davon. Ende der 1920er-Jahre suchten auch die beiden Familien Behn-Eschenburg und Zollinger in der Gegend ein neues Zuhause. Ein modernes Doppeleinfamilienhaus sollte es sein. Der Name “Zwillingshaus” war dabei Programm: Es Handelte sich bei den beiden Ehepaaren um gegenseitig verheiratete Zwillinge. Alfred Behn-Eschenburg und Hedwing Zollinger; sowie Alfred Zollinger und Elisabeth Behn-Eschenberg. Weshalb die Wahl auf Artaria & Schmidt als Architekten fiel, ist in den verfügbaren Quellen nicht belegt. Alfred Zollinger war bis 1928 Arzt am Bürgerspital in Basel und lebte mit Frau und Kindern am Rheinknie. Es ist gut möglich, dass das Paar während dieser Zeit auf die damals aufstrebenden Architekten Artaria & Schmidt aufmerksam wurden, die mit ihren Wohnbauten in Riehen (Haus Colnaghi, Haus Huber) oder dem “Haus zum neuen Singer” im Gellertquartier zur Avantgarde der modernen Architektur gehörten.
Die beiden Architekten hatten den Bauplatz in Mexiko-Stadt nie mit eigenen Augen gesehen. Zu beschäftigt waren sie in der Heimat, zu beschwerlich wäre die Reise über den Atlantik gewesen. Dennoch gelang es ihnen – bei aller architektonischer Rationalität – eine auf die klimatischen Bedingungen angepasste, typologische Lösung zu finden. Die zweigeschossigen Häuser verfügte im Obergeschoss, wo sich sämtliche Schlafzimmer befinden, über eine südorientierte, gedeckte Terrasse, die im Sommer Schatten spendete und ein angenehmes Zwischenklima schuf – und ausserdem als Verbindungsgang die beiden Häuser räumlich zusammenfasste. “The houses showed great resilience, not only to the effects of the natural environment, but to the weathering cause by use …”, beschreibt Architekturhistoriker Juan Manuel Heredia die Qualitäten des Doppelhauses. Der Erdgeschossgrundriss bestand aus einer Folge von Wohn- und Esszimmer gegen Süden und einer Schicht aus Nutzräumen zur Strasse im Norden. Low tech war angesagt: “Das milde Klima erfordert keine Heizung, dagegen ist die Südlage der Wohn- und Schlafräume wegen der langen Regenperiode erwünscht”, erläutert Paul Artaria. Ebenso wurde “in Anlehnung an die örtlichen Baugewohnheiten” kein Untergeschoss ausgeführt. Die Ausführung und Bauleitung vor Ort organisierte und begleitete der Schweizer Bauingenieur Max Gloor. Die von Artaria & Schmidt vorgesehene Stahlskelettbauweise musste den technischen Möglichkeiten der lokalen Bauweise angepasst werden. Das Zwillingshaus wurde letztlich “konventionell” aus tragenden Wänden in Mauerwerk und Betondecken ausgeführt. In Stahl wurden lediglich die filigranen Stützen der Terrasse im Obergeschoss ausgeführt, die jedoch entscheidend zum architektonischen Ausdruck des Hauses beitragen.
Erbaut wurde das Zwillingshaus 1929. So steht es zumindest in Artarias Buch “Vom Bauen und Wohnen”. Das Datum der Fertigstellung konnte nicht verifiziert werden. Mediale Beachtung fand der Neubau damals kaum. Weder in den lokalen Medien noch in der Fachpresse wurde darüber berichtet. 1941 besuchte der inzwischen aus der Sowjetunion nach Mexiko emigrierte Basler Architekt (und zweiter Direktor des Bauhauses) Hannes Meyer das Zwillingshaus und publizierte einen Artikel in der mexikanischen Architekturzeitschrift “Arquitectura”. Er ging darin der Frage des Regionalismus der zeitgenössischen Schweizer Architektur nach. Er beschrieb das Zwilingshaus als “example of the interrelation between Swiss customs and the Mexican landscape; a work in which the open space of the garden are beautifully brought into dialogue with the terraces of the houses, all opening to the south.” Das mag vielleicht etwas schönfärberisch klingen; dennoch bringt Meyer zentrale architektonische Qualitäten auf den Punkt: Einfachheit, Rationalität und Kontextbezug.
Wann und aus welchen Gründen das Haus abgerissen wurde, konnte ich bei meiner Recherche leider nicht in Erfahrung bringen. Beim aktuellen Anblick der Colonia del valle wird deutlich, dass auch in Mexiko-Stadt fleissig verdichtet wird. Um ein beschauliches Wohnquartier handelt es sich schon lange nicht mehr. Heute befindet sich an der Strassenecke, wo einst das Zwillingshaus stand, eine Klinik, die Clinica Gabriel Mancera. Nicht nur aus Basler Sicht ist es bedauernswert, dass dieses Stück Baukultur heute nicht mehr existiert. Leider hat in Mexiko der Denkmalschutz in Sachen moderner Architektur einen schweren Stand. Artaria & Schmidt sind dabei nicht allein: Auch die meisten Bauten von Luis Barragan sind nicht denkmalgeschützt.
Bleibt eine Frage: Handelt es sich wirklich um das erste moderne Haus Mexikos? “Designed by Swiss architects Hans Schmidt and Paul Artaria, the houses in fact represented the first examples of modern architecture in Mexico”, schreibt Juan Manuel Heredia in seinem lesenswerten Büchlein über das Zwillingshaus. Die These steht jedoch auf wackligen Beinen. Allgemein gilt das 1929 erbaute Haus von Architekt Juan O’Gorman mit seiner elegant geschwungenen Aussentreppe, den Pilotis, der auffaltbaren Fassade als das erste moderne Haus Mexikos. Huhn oder Ei? Es ist letztlich nicht die entscheidende Frage. Das “Zwilingshaus” bleibt eine bemerkenswerte Episode der internationalen Orientierung der ersten Moderne – und es bleibt die Erkenntnis, dass sich die Basler Architektur auch schon lange vor Herzog & de Meuron als globales Exportgut bewährte. Nur schade, dass das Haus nicht mehr steht. “Siento no poder ser de más ayuda”, meint die Frau, nachdem sie die leise Enttäuschung in meinen Augen sah.
Text: Lukas Gruntz / Architektur Basel
Literatur
- Heredia, Juan Manuel und Oechslin, Werner: The First Modern Building in Mexico: Twin Houses of Paul Artaria and Hans Schmidt, Arquine, Mexico-City, 2020.
- Meyer, Hannes: El regionalismo, Arquitectura, 1941.
- Artaria, Paul: Vom Bauen und Wohnen, Basel, 1948.
- Schmidt, Hans: Beiträge zur Architektur, 1924-1964, gta Verlag, 1993.