An der ausserordentlichen Einwohnerversammlung vom 22. September 1969 in Rheinfelden muss es wohl hitzig zu und her gegangen sein. Grund dafür war die Einzonung des Gebiets «im Weierfeld». Der Stadtrat war aus mehreren Gründen dagegen. Zum einen, weil das Land bisher nicht erschlossen und dies die Aufgabe der Ortsbürgergemeinde war und zum anderen wegen des für damalige Massstäbe gigantischen Projekts, das für diesen Ort geplant war: Die Siedlung mit dem romantischen Namen «R 1000».

Die Siedlung Augarten im Jahr 1975, Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz / Fotograf: Swissair Photo AG / LBS_L1-758116 / CC BY-SA 4.0
Eine Satellitenstadt für Rheinfelden
Vor dem zweiten Weltkrieg war das Weierfeld (je nach Schreibweise auch «Weiherfeld»), zwischen Rhein und Bahnlinie gelegen noch Wald. Um 1941 wurde dieser zu Gunsten von Anbaufläche gerodet. Nach dem Krieg erholte sich die Wirtschaft; mit dem Bau der Autobahn A3 rückte das Fricktal näher an Basel. Die chemische Industrie in der Region wuchs. Für die ehemalige Ciba-Geigy stellte sich bald einmal die Frage, wo die eigenen Beschäftigten wohnen sollten. Das Architekturbüro Gelpke und Düby errechnete, dass der Bedarf an Wohnraum nur wirtschaftlich gedeckt werden könne, wenn mindestens tausend Wohnungen gleichzeitig gebaut würden. Im Rheinfelder Weierfeld sah man den perfekten Standort. Das Gebiet war aber kein Bauland und musste erst eingezont und auf Kosten der Ortsbürgergemeinde erschlossen werden. Der Idee, dass da nun eine regelrechte Satellitenstadt für mehrere tausend Personen entstehen sollte, konnte man in Rheinfelden erst nicht so viel abgewinnen. Der Stadtrat schlug ein alternatives Gebiet vor, dieses war jedoch wesentlich kleiner. Fast tausend Personen waren anwesend, als die Einzonung mit einer Zweidrittelmehrheit bewilligt wurde.

A: Hochhäuser, B: Zentrum, C: Schule, D: Mehrfamilienhäuser, E: Reiheneinfamilenhäuser, F: Atriumhäuser, G: «Waldhof», Grundlagen: © Bundesamt für Landestopografie swisstopo
Ende April 1971 begannen die Bauarbeiten. Bauherrin der Siedlung R 1000 war die «AG für Wohnungsbau der Industrie», eine Tochtergesellschaft der Ciba-Geigy. Während fünf Jahren wuchs eine Satellitensiedlung aus dem Boden. Die 200’000 Quadratmeter grosse Grundfläche bildet ein nicht ganz gleichmässiges Rechteck, das südlich durch die Bahnlinie Basel-Frick und nördlich durch die Baslerstrasse begrenzt wird. Die Waldhofstrasse bildet die Haupterschliessung in Ost-West-Richtung. Von ihr gehen vier sekundäre Einbahnstrassen ab, die bis auf eine alle im Halbkreis verlaufen. Alle tragen sie Namen von Ortschaften. So finden wir etwa die Waldshuter- oder die Laufenburgerstrasse. Auf dritter Ebene führen Fusswege in Ost-West-Richtung entlang der Gebäude, davon abgehen wiederum quer verlaufende schmale Wege zu den einzelnen Zu- und Eingängen. Entlang aller befahrenen Strassen führen Trottoirs oder eigene Fusswege. Auto- und Fussverkehr sind ohne Aufheben und Schilderwald intelligent getrennt. Die Häuser sind entweder nord- oder ostseitig erschlossen und gegen Süden oder Westen ausgerichtet. Sackgassen finden sich praktisch keine.
Wohnraum für 3000 Personen
In der Siedlung gibt es vier hauptsächliche Wohnbautypen, auf die sich die 1’072 Wohnungen verteilen, sowie verschiedene öffentliche oder gemeinschaftliche Gebäude. 6 Hochhäuser (A) mit bis zu zwölf Stockwerken rahmen das pavillonartige Zentrum (B) mit Einkaufsladen, Restaurant mit Aussenbereich, Kiosk, Post und Tageszentrum. Eine Schule (C) mit zwölf Klassenzimmern schliesst die Mitte gegen Norden ab. 55 viergeschossige Mehrfamilienhäuser (D) bilden die nördlichen Ränder der vier sekundären Strassen. 114 zweigeschossige Reiheneinfamilienhäuser (E) besetzen einen Grossteil der Restfläche und werden ausschliesslich über Fusswege erschlossen. Obschon die Siedlung jede Menge oberirdische Parkplätze und eine eigene Bushaltestelle im Zentrum bietet, gibt es zwei unterirdische Parkhäuser, die jeweils von ausserhalb der Siedlung über eine ost- und westseitige direkte Ein- und Ausfahrt einzeln erschlossen werden. Über ihnen komplettieren insgesamt 56 eingeschossige Atriumhäuser (F) die Siedlung. Im durchorganisierten Städtebau fällt ein einziges Gebäude aus dem Raster. Der «Waldhof» (G), ein traditionelles Haus mit Steildach ist das älteste Gebäude und wurde offenbar zur Bewirtschaftung der Anbaufelder im Zweiten Weltkrieg erbaut. Nun steht es unübersehbar in der Mitte der Siedlung inmitten der Hochhäuser. Die Waldhofstrasse macht deswegen eine Extraschlaufe. Fast könnte man meinen, die Erbauer hätten das Häuschen grosszügig übersehen. Verkehrt ist die Setzung allerdings nicht, nimmt es der Waldhofstrasse doch den Horizont und bricht die Länge der Strasse auf ein angenehmes Mass herunter.

Die Geh- und Fahrweg sind unkompliziert getrennt – mit viel Grün © Simon Heiniger / Architektur Basel

Die Ausnahme inmitten von Hochhäusern: Der Waldhof © Simon Heiniger / Architektur Basel
Von Gartenzwergen und Plastikzäunen
Wagen wir einen Rundgang. Seit 2008 hält die Schnellbahn S1 wortwörtlich vor der Haustür. Die Station «Rheinfelden Augarten» hat zwar direkten Zugang zum Zentrum, es ist allerdings offensichtlich, dass eine solche Erschliessung 1971 nicht vorgesehen war. Das sonst so differenzierte Wegnetz scheint hier aus dem Gleichgewicht. Das scheint abseits vom Plan aber niemanden zu stören. Auf dem Spielplatz direkt beim Bahnhof versuchen sich zwei Kinder an den Spielgeräten. Ich biege nach Osten ab und nehme den Fussweg durch die Reiheneinfamilienhäuser. Wer Inspiration für Trockenmäuerchen, Mini-Springbrunnen und kitschige Gartendekorationen aus Plastik möchte, dem oder der sei ein Spaziergang entlang der vielen Vorgärten empfohlen. Ich folge dem Weg weiter bis zur Augartenstrasse im Osten. Als nächstes erkunde ich den nördlichen Rand zur Baselstrasse. Die südlich ausgerichteten Mehrfamilienhäuser haben alle eine rückwärtig vorgelagerte Garage. Obschon das Ganze etwas sehr strassenlastig daherkommt, funktionieren die Vorbereiche gut. Durch die Abtreppung der Strasse entsteht jede Menge Rangierfläche.

Die Reiheneinfamilienhäuser sind nur über Fusswege erschlossen © Simon Heiniger / Architektur Basel
Immer wieder kommen mir Personen aus den unterschiedlichsten Richtungen entgegen. Einigen werde ich heute gar mehrmals begegnen. Spaziergängerinnen, Väter mit Kinderwagen oder ältere Personen mit Einkaufstauschen im Rollatorkorb. Gefühlt alle paar Minuten treffe ich auf kleine Menschengrüppchen, die miteinander reden. Das wird sie sein, die Nachbarschaft. Hier scheint sie offenbar bestens zu funktionieren. Beim Streifzug durch den überdeckten Aussenbereich vor dem Restaurant reden und lachen ein paar ältere Herren beim Bier. Aus dem Lebensmittelladen piept die Kasse. Ein paar rausgestellte Schilder verraten das Mittagsmenü im Restaurant. Der südliche Park dahinter gibt ein seltsam künstliches Bild ab. Ein auf Betonsteine aufgemaltes Schachfeld, ein Brunnen, den zu Betreten unübersehbar gross angeschrieben verboten ist, betonierte Bänke und Pflanztröge, sowie eine längliche Kiste für Spielgeräte oder Streusalz stehen etwas zu geometrisch im Raum. Verglichen mit den verzweigten Wegen und kleinen Plätzen, wirkt der Park ziemlich anonym, ja gar deplatziert.

Der Park kommt etwas anonym daher © Simon Heiniger / Architektur Basel
Atriumhäuser als Oasen
Ich wähle den nächsten Fussweg gegen Westen und steige über eine kleine Treppe zu den leicht erhöht gebauten Atriumhäusern. Es erwartet mich ein auf den ersten Blick labyrinthisches Wegnetz. Die Gärten der Häuser sind mit geschosshohen Mauern umgeben, die Zugänge in den Vor- und Rücksprüngen der Mauer. Die schmalen und sehr schmalen Bereiche des Wegs wechseln sich ab. Jeweils neun oder zehn Atriumhäuser gruppieren sich um einen gemeinsamen Miniplatz. Diese sind geometrisch immer etwas anders ausgestaltet und tragen Namen wie «Im Feuerbusch», «Im Görbel» oder «Im Sonnentau». Der Spaziergang durch die Atriumhäuser fühlt sich gar heimelig an. Dennoch habe ich nie das Gefühl, in jemandes Privatsphäre einzutreten. Kleine Oasen im dicht bebauten Quartier.

Die Zugänge zu den Gärten befinden sich in den vor- und Rücksprüngen der Mauern © Simon Heiniger / Architektur Basel

Beinahe ein kleines Labyrinth: Die Atriumhäuser © Simon Heiniger / Architektur Basel

Die Atriumhäuser sind um vier unterschiedliche Höfe angeordnet © Simon Heiniger / Architektur Basel
Wenig Bezug zur Umgebung
Ich kehre zum Bahnhof zurück. Von den teilweise wenig ansprechenden Erdgeschossen der Hochhäuser über die Dekorationen in den Gärten bis hin zur raffinierten städtebaulichen Grundidee, gibt es im Augarten vieles zu sehen. Im Einzelnen mag einiges verwirren, betrachten wir jedoch das Ganze, so funktioniert hier ziemlich viel sehr gut. Eine Siedlung, die so stark ist wie der Augarten, vermag über Individualitäten hinwegzusehen – und das muss die Architektur auch unbedingt leisten können. Prüfung bestanden.
Überhaupt nicht ansprechend wirken die Ränder der Siedlung. Die beiden Zugänge im Osten und Westen kontrastieren die öffentliche Durchwegung und signalisieren: Hier ist der Eingang, ansonsten ist zu! Auch wenn viel Wert auf die Erschliessung zu Fuss gelegt wurde – die Siedlung ist nun mal zu einer Zeit gebaut worden, als das Auto noch das Fortbewegungsmittel der Wahl war. Zwar sah man nach dem Bau schnell ein, dass die meisten wohl keinen eigenen Wagen besassen und man entschied sich, einen Stadtbus einzuführen, der den Augarten mit Rheinfelden verband. Doch blieb die Siedlung ein Satellit. Ein Satellit ohne Umgebung. Das hat sich bis heute kaum verändert. Zwar sind die Gebiete zwischen der Siedlung Augarten und Rheinfelden inzwischen bebaut, stellen aber keinen wirklichen Mehrwert dar. Die Umgebungsgestaltung der östlichen Nachbarsiedlung am Pappelnweg etwa ist höchstens beliebig und die Architektur selbst ein emotionsloser Mix aus verputzter Aussenwärmedämmung und Plastikfenstern.

Alle Gehwege führen zum Ziel, Sackgasse gibt es praktisch keine © Simon Heiniger / Architektur Basel
Heute scheint der Augarten gut akzeptiert. Als die Siedlung fertiggestellt wurde, war das nicht unbedingt so. Die ersten Bewohnerinnen und Bewohner zogen bereits 1973 ein. Ein Bewohnerverein wurde gegründet und alles Mögliche für die Beliebtheit des Augartens getan. Dazu gehörten etwa Angebote zur Kinderbetreuung und Spielplätze. Ein Meilenstein war die Umbenennung von «R 1000» auf «Augarten». Dennoch hatte niemand so richtig Interesse, in die Siedlung zu ziehen. Im Frühling nach Fertigstellung waren die Gebäude erst zu 35% belegt. Es ergab sich, dass die Wohnungen im Allgemeinen zu teuer waren. Also wurden die Mietzinsen um zwanzig Prozent gesenkt. Das wirkte. Noch im selben Jahr brannte in der Hälfte aller Wohnungen Licht. Seit 1980 gibt es keine Leerstände mehr.
Was ist das Erfolgsrezept des Augartens? Zum einen dürfte es die Architektur als solche sein. Bestimmt war nicht immer alles wie heute und hat sich über die Zeit entwickelt, doch muss dafür das Grundgerüst stimmen: Das unterschiedliche Angebot an Wohnraum, kombiniert mit öffentlichen Gebäuden, einer Schule und Einkaufsmöglichkeiten. Gemäss Bewohnerverein war sogar mal ein Hallenbad projektiert. Doch gab man diesen Plan auf, als in der nahen Siedlung Liebrüti in Kaiseraugst ein solches eröffnet wurde. Liebrüti wurde ungefähr zur selben Zeit erbaut – ebenfalls als Satellit – verfolgte aber mit den wenigen, dafür hohen Gebäuden und viel Grünraum dazwischen ein etwas anderes städtebauliches und architektonisches Konzept ähnlich dem Wohnpark Alterlaa in Wien. Kein Kind der Siebziger, aber in diesem Zusammenhang erwähnenswert, ist die Seestadt Aspern in Österreich. Sie ist derzeit eines der grössten Stadtentwicklungsprojekte Europas. Die Stadt ausserhalb von Wien ist für fast 30’000 Personen geplant und befindet sich derzeit im Bau. Ob man da noch von einer Satellitenstadt sprechen kann?

Im Zentrum gibts auch eine öV-Haltestelle © Simon Heiniger / Architektur Basel
Wie umgehen mit der Substanz?
Aber zurück nach Rheinfelden. Was der Gesellschaft von damals ihr Auto, war der Beton den Architektinnen und Architekten. In keiner Epoche treffen wir vermutlich auf mehr Beton. Nicht selten wurde qualitativ Schlechtes verbaut und an den Gebäuden nagt heute der Zahn der Zeit. Wie also umgehen mit den Architekturikonen von damals? Weder Liebrüti noch der Augarten sind denkmalpflegerisch geschützt. Dennoch gibt es Vorschriften, wie im Augarten beispielsweise bei Sanierungen mit der Substanz umgegangen werden muss. Eine Vereinbarung zwischen der Betriebsgenossenschaft und der Einwohnergemeinde der Stadt Rheinfelden aus dem Jahr 2009 legt fest, was bei «geringfügigen» Bauvorhaben innerhalb der Siedlung zu beachten ist. Davon betroffen sind beispielsweise der Ersatz von Bauteilen, neue Wärmedämmungen, Windfänge, Wintergärten oder Überdachungen. Für die privaten Umgebungsbereiche, sowie für alle Haustypen sind verschiedene Details vorgeschrieben. So darf eine neue Wohnungseingangstür in einem Mehrfamilienhaus etwa nur in Holz oder Kunststoff in der Farbe RAL 3003 «rubinrot» daherkommen. Zudem müssen eine allfällige Teilung und Erscheinung pro Fassadeneinheit übereinstimmen. Die Rolladen und Lamellenstoren dürfen ebenso untereinander abgestimmt in zwei unterschiedlichen Grautönen, in «elfenbein» oder «hellelfenbein» daherkommen, die inneren Betonoberflächen der Laubengänge hingegen in «perlweiss», «hellelfenbein» oder «reinweiss». Auf diese Weise wird ziemlich viel geregelt, was das äussere Erscheinungsbild und vor allem die Gesamterscheinung betrifft.
Im Sinne des Denkmalschutzes sind solche Rahmenbedingungen äusserst begrüssenswert, wenn es dadurch möglich ist, den Bewohnerinnen und Bewohnern die grösstmögliche gestalterische Freiheit zu lassen und die Siedlung als solche trotzdem einheitlich zu erhalten. Wichtig für den längerfristigen Erhalt scheint aber die generelle Akzeptanz. Denn schlussendlich ist und bleibt die Siedlung Augarten das, was sie aus sich macht. Meiner Ansicht von ausserhalb nach tut sie das jedenfalls gut!
Text und Fotos: Simon Heiniger / Architektur Basel
Weiterführende Informationen und Quellen:
– «Die Geschichte des Augartens», www.augarten.ch
– «Vereinbarung zwischen Einwohnergemeinde der Stadt Rheinfelden vertreten durch den Gemeinderat und Betriebsgenossenschaft Augarten» (2009)
– Luftaufnahme: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz / Fotograf: Swissair Photo AG / LBS_L1-758116 / CC BY-SA 4.0