Schulnoten für Fassaden: Das Experiment am Centralbahnplatz

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Kann man Fassaden benoten? Von eins bis sechs. Wie in der Schule. Die Rationalisierung des architektonischen Urteils sei ein heikles Unterfangen, sagen viele. Manche behaupten gar: «Über Geschmack lässt sich nicht streiten.» Tatsächlich ist die Bewertung von Bauten keine reine Geschmackssache. Es gibt klar benennbare Kriterien, die gute Häuser – und Fassaden – auszeichnen. Unser Redaktor Lukas Gruntz wagt das Experiment: Er nimmt den kürzlich publizierten Studienauftrag am Centralbahnplatz zum Anlass, die präsentierten Fassaden zu benoten. Die Kiterien sind: Kontextbezug, Orgininalität und Ökologie. Gar nicht so einfach, wie sich herausstellt.

Buol & Zünd, Basel

© Buol & Zünd

Kontextbezug
Die Fassade nimmt die Gliederung und Geschosshöhen der beiden Nachbarsbauten exakt auf. Damit fügt es sich selbstverständlich und zurückhaltend in die Häuserzeile ein. Die horizontalen Gesimse referenzieren die historisierende Architektur, die den Centralbahnplatz massgebend prägt. Die Fassade schafft einen stimmigen Kontextbezug. Dafür gibt es die Bestnote.
Note: 6

Originalität
Vom Kleinen zum Grossen – oder vom Liegenden zum Stehenden. Die Fensterformate entwickeln sich vom Erd- bis zum Dachgeschoss. Damit schafft die Architektur eine schlichte Gliederung – ohne formalistisch zu wirken. Wirklich originell ist das nicht. Die Jury schreibt: «In der weiteren Bearbeitung soll das Fassadenbild noch selbstbewusster und eindeutiger ausformuliert werden.» Das sehen wir ebenso.
Note: 5

Ökologie
Die Fassade funktioniert als Einsteinmauerkwerk. Der vorgeschlagene Bricosolstein mit einer Stärke von über 40 Zentimetern vereint Tragfähigkeit und Wärmedämmung. Die Herstellung der Steine ist relativ C02-intensiv. Die spätere Wiederverwendung des Mauerwerks dürfte sich schwierig gestalten. Dafür ist der Fassadenaufbau an Robustheit und Langlebigkeit kaum zu überbieten.
Note: 4.5

© Buol & Zünd

Fazit
Die Fassade von Buol & Zünd besticht vor allem durch ihren einfühlsamen Umgang mit dem Kontext. Sie fügt sich zurückhaltend in die Häuserzeile. «Die Fassade fügt sich stark in den Gesamtkontext ein, im Ausdruck und der Gliederung reagiert das Projekt auf die Nachbarliegenschaften und nimmt mit dem verputzten Einsteinmauerwerk die Materialität des Ortes auf», fasst es die Jury zusammen. Das ist eine hohe Qualität. Abzüge gibt es in Sachen Ökologie.
Gesamtnote: 5.25

 

 

Harry Gugger Studio, Basel

© Harry Gugger Studio

Kontextbezug
Alt- oder Neubau? Die historisierende Fassade verweigert sich bewusst einem zeitgenössischen Ausdruck. Es nimmt damit die Architektursprache des Centralbahnplatzes ernst. In bester Kollhoff’scher Manier wird der Kontinuität des Stadtgewebes der Vorrang vor einer eigenständigen Architektursprache gestattet. Abzüge gibt es für den Versprung der Geschosshöhen zu den beiden Nachbarn. Das erzeugt bei aller Regelmässigkeit eine leichte Unruhe in der Zeile.
Note: 5

Originalität
«Ein Bild, mit einer repetitiven Lochbefensterung, welches sich selbstverständlich zwischen die Nachbarschaften einfügt», schreibt die Jury. Besonders originell ist das nicht. Zwischen Zurückhaltung und Anbiederung beschreitet der Fassadenentwurf einen schmalen Grat. Ein Beispiel gefällig? Die beiden Segmentbögen im dritten Obergeschoss, die bei mineralischen Bauten einer konstruktiven Logik entspringen, darf man kontrovers diskutieren. Sie wirken dekorativ, anekdotisch.
Note: 4

Ökologie
Eine Holzfassade? Jäwoll. Die Holzständerkonstruktion wird mit Hanffasern gedämmt. Die Bekleidung besteht aus gestrichenem Accoya-Holz. Best practice: Dass diese Konstruktion im städtischen Kontext funktioniert, lässt sich am Barfüsserplatz begutachten. Es ist ein innovativer, ökologischer Umgang mit der Frage der «steinernen Stadt». Leichte Abzüge gibt es einzig für die Holzschalung: Accoya wird zu grössten Teilen aus in Neuseeland angepflanzter Monterey-Kiefern produziert. Das bedingt lange Lieferwege.
Note: 5.5

© Harry Gugger Studio

Fazit
Die eigenständige Haltung besticht. In bester postmoderner Haltung wird das Stadtgewebe weitergestrickt. Die historisierende Fassade wirkt jedoch eigenartig steif. Dafür gibt es Pluspunkte für die gewählte Holzkonstruktion, die besonders ökologisch ist.
Gesamtnote: 4.75

 

Fiechter & Salzmann Architekten, Zürich

© Fiechter & Salzmann Architekten

Kontextbezug
Obwohl es sich offensichtlich um eine zeitgenössische Fassade handelt, schafft die Reduktion auf ein Fensterformat und die stehende Proportion einen stimmigen Bezug zum Kontext. Auch die Kreisfragmente sind eine Reinterpretation der Fensterbögen des Nachbarhauses. Abzüge gibt es für die verspringenden Geschosshöhen und Dachrand.
Note: 5

Originalität
«Die fein gegliederte Glasfassade schafft eine gute Präsenz am Bahnhofplatz», heisst es im Jurybericht. Eine gewisse Feierlichkeit versprüht die Fassade. Das ist zur würdigen Begrüssung der Bahnreisenden durchaus angebracht. Die Baslerische Rationalität und Schlichtheit wird in eine zeitgenössische, lustvolle Form übersetzt. Formalismus? Nein, die Fassade wirkt elegant und leicht.
Note: 5.5

Ökologie
Ob die halbrunden PV-Elemente als Sonderanfertigung der ökologischen Nachhaltigkeit genügend Rechnung tragen, bleibt bei genauerer Betrachtung fraglich. Der hohe Glasanteil widerspricht einer emmissionearmen Bauweise und ist kritisch für die Behaglichkeit: «Der hohe Wärmeeintrag im Sommer widerspricht einem behaglichen Raumklima», lesen wir im Jurybericht. Die Kühlung der Büroräume würde viel Energie verschlingen.
Note: 3.5

© Fiechter & Salzmann Architekten

Fazit
«Die fein gegliederte Glasfassade schafft eine gute Präsenz am Bahnhofplatz», beschreibt die Jury die Qualitäten der Fassade. Tatsächlich gelingt Fiechter & Salzmann eine ausgesprochen elegante Gestaltung. Abzüge gibt es für die ökologische Nachhaltigkeit.
Gesamtnote: 4.75

 

Sergison Bates architects, Zürich

© Sergison Bates architects

Kontextbezug
Als erstes springt die rote Farbe ins Auge: Sie ist am Centralbahnplatz, der geprägt von Beigetönen ist, eher fremd. Ebenso sind die markanten horizontalen Bänder ein architektonisches Element, das man bei den Nachbarsbauten vergebens sucht.
Note: 4

Originalität
Die Fassade schafft Tiefe. Die Jury schreibt: «Die prägende Idee, die Fassade vielschichtig in die Tiefe zu entwickeln, ist interessant und fungiert für die Gewerberäume als nutzbarer Filter zum Centralbahnplatz.» Die leichte Faltung der Fensterebene schafft zudem spannende Reflektionen. Ebenso interessant ist das Spiel mit den Proportionen. Durch das visuelle Zusammenfassen des dritten und vierten Obergeschosses entsteht ein markanter Massstabsprung. «Das Spiel mit den unterschiedlichen Ebenen sowie dem nach oben verringerten Öffnungsverhalten in Reaktion auf die jeweilige Nutzung ist äusserst interessant und wird gewürdigt.» Ob als Referenz das Wohn- und Geschäftshaus von Diener & Diener an der Bäumleingasse Pate stand?
Note: 5

Ökologie
Die horizontalen Brüstungsbänder werden in Ortbeton ausgeführt. Die vertikalen Stützen sind vorfabrizierte Betonelemente. Der ökologischen Nachhaltigkeit wird damit nicht Rechnung getragen. Dazu kommt die Verdoppelung der Fassade: Die grossen Glasflächen haben einen ebenso grossen CO2-Fussabdruck. Man kann es kurz fassen: Die Frage der Ökologie war bei diese Fassade kein Entwurfsthema.
Note: 3

© Sergison Bates architects

Fazit
Auch wenn der Entwurf dem Diener-Bau an der Bäumleingasse verblüffend ähnlich sieht, schafft die Fassade einen markanten, architektonischen Ausdruck, der durchaus imponiert. Darunter leider der Kontextbezug. Die Ökologie war kein Thema, was grosse Abzüge gibt. Insgesamt nur knapp genügend.
Gesamtnote: 4

 

Lukas Raeber Architektur, Basel

© Lukas Raeber

Kontextbezug
Die in sich ruhende, symmetrische Fassade zentriert die Häuserzeile. Ohne sich anzubiedern, schafft die Reduktion auf wenige Fensterformate und die helle Farbe einen entspannten Kontextbezug. Etwas weniger gelungen sind die zu den Nachbarn verspringenden Geschosse und der Dachabschluss. Die Jury sieht das deutlich kritischer: «Die Fassade wirkt insgesamt zu wuchtig und sprengt sich zwischen die Nachbarbauten.»
Note: 5

Originalität
Die Stärkungen einer zentralen Symmetrieachse ist ein altbekanntes architektonisches Motiv. Lukas Raeber gelingt es, die starke Symmetrie in einen zeitgenössischen Ausdruck umzumünzen. «Das Zugangsportal wird mit einer Stütze zusätzlich akzentuiert. Die darüber mittig angeordneten pilasterförmigen Elemente verstärken die kräftige Erscheinung», schreibt die Jury. Besonders innovativ ist das vorgeschlagene Fassadenmaterial: Kunststoffplatten aus rezyklierten Plastik.
Note: 5

Ökologie
«Das Projekt schneidet in der Ökobilanzbetrachtung allgemein besonders gut ab», heisst es im Jurybericht. Tatsächlich besticht die Fassade gleich dreifach: Erstens ist da die grosse Photovoltaik-Fläche. Zweitens das Upcycling dank Wiederverwendung von Plastikabfall. Drittens die Holzelementbauweise. In Sache Ökologie ist die Fassade eine Musterschülerin.
Note: 5.5

© Lukas Raeber

Fazit
Ohne historisierend zu wirken, schafft die Fassade dank dem klassischen Thema der Symmetrie einen eigenständigen Ausdruck. Letztlich wirkt er nicht ganz stimmig. Dank der Umgang mit der ökologischer Nachhaltigkeit gibt es eine gute Note.
Gesamtnote: 5.25

 

Wallimann Reichen, Basel

© Wallimann Reichen

Kontextbezug
Die Fassade ist ein Geschoss weniger hoch. Das hilft dem Kontextbezug: «Zum Bahnhofsplatz führt die reduzierte Geschosszahl mit einer «verfrühten» Staffelung des Baukörpers zu einer volumetrischen Angleichung im gesamtstädtischen Kontext.» Ebenso gelungen ist die Übernahme von Sturz- und Brüstungslinien der Nachbarsbauten. Weniger kontextuell ist das Öffnungsverhalten: Die Bandfenster sind im «im stark von Lochfenstern geprägten Kontext» eher fremd.
Note: 4.5

Originalität
«Wer keine Idee hat, macht eine Bandfassade», sagte einst ein Basler Architekt. Das trifft in diesem Fall nicht zu: Die transluzenten Fassadenbänder erzeugen eine erstaunliche, visuelle Tiefe erzeugen. Ebenso entspannt ist der Umgang mit den Geschosshöhen: Trotz ökonomischen Nachteilen wirkt die zusätzliche Höhe gestalterisch wohltuend. Die Fassade atmet.
Note: 5.5

Ökologie
«Der vergleichsweise etwas höhere Anteil der Emissionen ist dem grossen Fensteranteil zuzuschreiben», steht im Jurybericht. Pluspunkte gibt es für die elegante Integration der Photovoltaik-Elemente. Ebenso nachhaltig ist der Fassadenaufbau: Eine Holzständerkonstruktion wird aussen mit einer Massivholz- und innen mit einer Lehmbauplatte bekleidet.
Note: 5

© Wallimann Reichen

Fazit
Sind Bänder im Kontext der Löcher angebracht? Diese Frage kann kontrovers diskutiert werden. Die Jury sah sie kritisch. Ansonsten besticht die Fassade durch ihre feine Detailierung und poetischen Umgang mit den ökologischen Vorgaben. Die Gestaltung überzeugt.
Gesamtnote: 5

Diener & Diener, Basel

© Diener & Diener

Kontextbezug
Die Beurteilung der Jury liest sich verkopft: «Klassische örtliche Gestaltungsregeln zum Ausdruck einer Ruhe, Zeitlosigkeit und Repräsentation werden aktiviert.» Wir dekodieren: wenige stehende Fensterformate, die Übernahme der Geschosshöhen und eine mineralische Fassade. Unpassend ist hingegen das massive, erste Attikageschoss. Hier wäre eine Differenzierung der Fassadengestaltung – analog einem Mansardendach – stimmiger gewesen.
Note: 5

Originalität
Hohe Würdigung: «Das Spiel mit Plastizität und Proportion wird durch das Beurteilungsgremium hoch gewürdigt.» Tatsächlich ist die Detailierung der dreiteiligen Kastenfenster sorgfältig. Sie wirken jedoch eigenartig antiquiert – irgendwo zwischen Le Havre und Eurpoaallee – Auguste Perret und Max Dudler. Originell ist anders.
Note: 4.5

Ökologie
Die aufwändige Fensterkonstruktion samt Vitrine ist alles andere als emmissionsarm. Der materielle Aufwand ist beträchtlich. Für die Recherche zum selbsttragenden Naturstein gibt es Pluspunkte. Da sie hauptsächlich als Fassadenbekleidung dient, muss Aufwand und Ertrag kritisch diskutiert werden. Positiv auf die Ökologie wirkt sich die innere Holzständerkonstruktion mit 30 Zentimetern mineralischer Dämmung aus.
Note: 4.5

© Diener & Diener

Fazit
Einen Thalia-Bücherladen am Bahnhof? Den Projektverfassern schwebt er vor. Daneben fände auch der Bachmann wieder Platz. Die Fassade weiss weder zu berauschen – noch zu langweilen. Solides Mittelmass aus dem Hause Diener.
Gesamtnote: 4.5


Schlusswort
Der Schreibende ist sich bewusst, dass seine Benotung einer gewissen Oberflächlichkeit nicht entbehrt. Es ist ein Versuch. Im Dialog mit Laien könnte er dennoch hilfreich sein, um die Komplexität der architektonischen Gestaltung nachvollziehbar zu machen. Die Fassade als Bauteil, das zwischen privatem Haus und öffentlichem Raum vermittelt, ist als Diskussionsgrundlage besonders prädestiniert. Rückmeldungen und Ergänzungen zur Bewertung sind herzlich willkommen. Am liebsten per Mail an info@architekturbasel.ch

 

 

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