Das Monatsinterview endet dort, wo wir uns befinden: Beim Thema «Basel». Die Auseinandersetzung mit der hiesigen Baukultur hat für Herzog & de Meuron von Anfang an eine besondere Rolle gespielt. Sie waren fasziniert von der Radikalität der Basler Vertreter der Moderne – der Basler Architektur der 1970er hingegen abgeneigt: «Überbauungen wie die Wohnblocks bei der ehemaligen Stadtgärtnerei, das Klinikum 2 oder das Kongresszentrum – alles Bauten aus den siebziger und achtziger Jahren – fanden wir grässlich. » Ein Gespräch mit Jacques Herzog über Baukultur, Stadtentwicklung, Carl Fingerhuth, den Geruch der Stadt und – Basel.
Lukas Gruntz (Architektur Basel): Pierre de Meuron und du haben bei einigen Projekten Zitate aus der Basler Architektur eingeflochten. Ich denke an das „Haus für einen Kunstsammler“ in Therwil, das man als Interpretation der NILBO-Bauweise lesen könnte, oder an die Fassade des Wohnhauses an der Allschwilerstrasse, die das Realgymnasium von Hans Bernoulli und Mumenthaler Meier referenziert. Woher kommt diese besondere Zuneigung zur Basler Baukultur?
Jacques Herzog: „Wir sind hier aufgewachsen. Das ist die Baukultur, die wir kannten. Es war naheliegend – wortwörtlich gesagt. Auch war es wie eine Art Nachdenken über diese Architektur anhand von eigenen Projekten. Es war ein Weg in die Welt der Architektur. Unser Weg. Niemand machte damals solche Sachen. Wir liebten die unscheinbare, gewöhnlich ungewöhnliche Architektur der Hinterhöfe mit ihren Handwerksbetrieben, die armseligen Materialien, Sperrholz, Asphalt, vorfabrizierte Betonteile, Baracken. Die B-Seite der Architektur sozusagen. Zugleich verachteten wir die offizielle Architektur der beginnenden Postmoderne jener Zeit. Durch diese Suche im Verborgenen konnten wir unser Denken entfalten, ein Fundament bauen für unsere spätere Arbeit mit ihren vielfältigen Verästelungen und scheinbaren Widersprüchen, ohne uns je zu verlieren. Das trägt uns – bis heute.“
„Pierre und ich fanden es immer toll, dass wir in Basel die viel radikaleren Architekten hatten als in Zürich.»
Wer waren eure Architektenvorbilder in Basel? In der Zwischenkriegszeit gab es hier bekanntlich eine Garde von politisch äusserst engagierten Architekten, namentlich Hannes Meyer, Hans Schmidt oder Hans Bernoulli. Haben die euch interessiert?
„Pierre und ich fanden es immer toll, dass wir in Basel die viel radikaleren Architekten hatten als in Zürich. In Zürich gab es zwar auch sehr gute Leute wie Hans Hoffmann oder Karl Moser. Sie waren konservativer, aber erfolgreicher als ihre Basler Kollegen. Sie bauten mehr, gerade auch in Basel. Wichtige, ja unverzichtbare Bauten wie das Kraftwerk Birsfelden, die Antoniuskirche oder den Badischen Bahnhof. Keiner der grossen Basler Architekten konnte derart städtebaulich wirksame Architekturen realisieren. Bestimmt gab es dafür auch politische Gründe, weil die Basler eine sozialistische, das geltende Bodenrecht überwindende Gesinnung vertraten. Aber deren Entwürfe wie etwa die Petersschule von Hannes Meyer oder die Villen von Artaria und Schmidt, sowie die städtebaulichen Texte von Bernoulli beeinflussten uns stärker als die moderate Position der Zürcher.»
«Wir wollten nicht anknüpfen und anbandeln mit den damals in Basel etablierten Architekten – etwa des BSA. Wir sahen darin einfach keine Qualität.»
Was interessiert euch genau an ihrer Arbeit?
„Uns interessierte die Radikalität ihrer Arbeit. Das gefiel uns als jungen Architekten. Weil es sich von den vorherrschenden Modellen absetzen wollte. Auch wir wollten nicht anknüpfen und anbandeln mit den damals in Basel etablierten Architekten – etwa des BSA. Wir sahen darin einfach keine Qualität. Überbauungen wie die Wohnblocks bei der ehemaligen Stadtgärtnerei, das Klinikum 2 oder das Kongresszentrum – alles Bauten aus den siebziger und achtziger Jahren – fanden wir grässlich. Das war weder modern noch postmodern. Es gab keine inhaltliche Debatte, keinen Diskurs. Der entstand erst wieder mit unserer Generation und mit den ersten Projekten von Roger Diener und uns. Wir begannen, uns mit neuen Themen zu beschäftigen. Nach der erwähnten Anfangsphase der Materialsuche zunehmend mit einem Interesse für das Abstrakte und das Minimale, dessen Vorbilder wir in der amerikanischen Kunst erkannten und in die Welt der Architektur einbrachten. Der Begriff des Minimalismus hatte es zuvor in der Architektur nicht gegeben. Besonders unser kleines Museum für die Sammlung Goetz wurde zum Sinnbild und architektonischen Ausdruck dieser neuen Haltung. Bald wurde “Minimalismus” zu einem schweizweiten Phänomen und Trade Mark einer neuen Generation.»
«Das Analoge verleidete uns, weil die Jünger von Aldo Rossi an der ETH daraus eine beinahe religiöse Bewegung machten»
Um welche Haltung ging es dabei?
„Es war eine Abkehr von Vorbildern, eine Absage an das Erzählerische und Analoge, das in unseren ersten Projekten – das Blaue Haus, das Haus in Therwil, das Foto Studio in Weil – zum Ausdruck kommt. Das Analoge verleidete uns, weil die Jünger von Aldo Rossi an der ETH daraus eine beinahe religiöse Bewegung machten, in der wir Rückwärtsgewandtheit, Nostalgie und Kitsch erkannten. Die Abstraktion war dazu eine ideale Gegenwelt – wie gesagt war da die Nähe zur Kunst des Abstrakten Expressionismus und der Minimal Art eine wichtige Inspiration. Ich hatte damals ja selbst noch – parallel zur Arbeit im Büro – als Künstler gearbeitet und hier in Basel bei Stampa ausgestellt. Wir waren ja auch mehr mit Künstlern als mit Architekten zusammen – Helmut Federle und später Rémy Zaugg hatten entscheidenden Einfluss in jener Phase unserer Entwicklung. Es entstanden radikale, ja abweisende Projekte wie etwa der Glaskubus der Pfaffenholz Sporthalle. Bald aber entdeckten wir, wie wichtig die sinnliche, unmittelbar auf den Menschen ausstrahlende Materialisierung von Architektur sein konnte – gerade bei einfachen Volumina wie etwa dem kupferumwickelten Stellwerk oder der Dominus Winery mit ihrer Fassade aus Felsbrocken. Da gelang uns etwas Neues. Eine neue Sicht auf die physische, materielle Gegebenheit von Architektur. Besonders bei Dominus, welche zugleich Schwere und Leichtigkeit, Dunkelheit und Lichtdurchlässigkeit ausdrückt. Diese paradoxen Eigenschaften der Materialität und der Plastizität von Architektur herauszuarbeiten, fasziniert und begleitet uns – bis heute.»
«Die heutige Stadt ist voller Widersprüche und Gegensätze. Basel wird zunehmend eine heterotopische und polyzentrische Stadt.»
Wenn wir von Basel als Architekturstadt sprechen und insbesondere an die erstaunliche Entwicklung seit den 1980er-Jahren denken, ist Carl Fingerhuth sicher eine wichtige Figur. Kürzlich habe ich mit ihm ein Interview geführt. Mit Blick auf die Stadtentwicklung Basels in den letzten zehn Jahren meinte er vielsagend: “Es scheint eine neue Baukultur zu geben.” Siehst du das auch so?
„Carl hat grosse Verdienste bei der Förderung der damals jungen Architektengeneration, zu der wir gehörten. Wir profitierten insbesondere davon, dass er kleine Wettbewerbe organisierte für Junge. Dafür suchte er neue und ungewohnte Orte. Baulücken und Hinterhöfe etwa. So entstanden unsere Projekte an der Hebelstrasse oder an der Schützenmattstrasse. Carl war charismatisch und engagiert. Seine grossen Projekte waren aber nicht alle so erfolgreich wie der Rosshof. Etwa der Masterplan beim Bahnhof SBB mit dem langen und undurchdringlichen Riegelbau an der Nauenstrasse – hier kann man klar erkennen, dass seine Idee der Randbebauung eben nicht überall funktionieren kann. Ich schätzte stets sein Engagement für die Stadt der tradierten Bauformen und Bautypologien: Randbebauung, Hof, Höhenbeschränkung, Proportionen und Materialisierung. Wo wir dieser Sicht entsprachen, war Carl zufrieden, ja sogar begeistert, weil er unsere Sorgfalt und Kreativität erkannte und schätzte. Seine Sicht auf die Stadt der Gegenwart ist aber zu begrenzt – wie man am Beispiel Nauenstrasse erkennen kann – weil sie den grossen Massstab, den Massstabssprung und die Entwicklung in der Vertikalen ausblenden möchte. Er misst Basel noch heute an der Komposition der historischen Stadt mit dem Münsterhügel als alles dominierende Silhouette. Die historische Stadt ist ein Zentrum, aber nicht das alleinige Zentrum. Die heutige Stadt ist voller Widersprüche und Gegensätze. Basel wird zunehmend eine heterotopische und polyzentrische Stadt. Auf den Arealen von Novartis und Roche sind solche neuen Zentren im Werden – wirtschaftlich, kulturell und in ihrem städtebaulichen Ausdruck. Vergleichbar den einstigen Klosterarealen. Dazu werden neue Orte im Dreispitz, Klybeck und St. Jakob/Wolf entstehen. Fingerhuth war aber – wie du richtig erwähntest – sehr wichtig, um Architektur mittels Wettbewerben, Vorträgen und Ausstellungen in Basel zu fördern. Gibt es zur Zeit so kleine Wettbewerbe, die Junge fördern? Oder kriegen wir das vielleicht nicht so mit?“
Gute Frage. Die Hofbebauung an der Maiengasse ging ein bisschen in diese Richtung. Aber wenn man sagt, dass für unsere Generation „build on the built“ ein zentrales Thema sein wird, dann bedingt das tatsächlich ein stärkeres Aufspüren solcher Potentiale und Orte. Das sollte man von Behördenseite her forcieren.
„Aber auch du und andere Junge könnt da aktiv werden. Die Frage ist doch, wo Verdichtung erreichbar ist und ausserdem eine neue stadträumliche Qualität entsteht. Gerade ihr habt ja die Fähigkeit, solche Orte aufzuspüren, da ihr quasi jeden Quadratmeter der Stadt kennt. So könnt ihr die offizielle Stadtplanung von Beat Aeberhard und seinen Leuten durch eine inoffizielle ergänzen. Das ist eine wichtige politische Arbeit. Und hier eine besondere Chance, da wir in einem überschaubaren Perimeter leben. Wir selbst machen das bis heute. Beispiel Herzstück – wo Pierre die politischen Vertreter von Basel-Stadt und Baselland in Bern unterstützte mit handfesten, einleuchtenden städtebaulichen Überlegungen und Argumenten, die von einer Amtsstelle kaum in der Form hätten beigetragen werden können. Schon früher – auch in engem Austausch mit Rémy Zaugg – entwickelten wir Ideen für die trinationale Stadt Basel, von deren Potenzial wir überzeugt waren und für deren städtebauliche Gestalt wir ja Leitbilder und Texte lieferten, die bis heute aktuell sind.“
Wenn wir schon von der Verbesserung von Stadträumen sprechen: Ich bin gespannt, wie die neue Gasse eures Projekts beim Stadtcasino den Zugang zum Barfüsserplatz erweitern wird.
„Ja, das sind wir auch. Von der Idee des Architekten hin zur physischen Umsetzung vergehen meistens viele Jahre. Wir müssen uns also immer gedulden, bis wir unsere Arbeit vor uns sehen und beurteilen können. Wir sind beim Casinogässlein überzeugt, dass es viel benutzt wird, wortwörtlich neue Wege eröffnet und so den Barfüsserplatz neu ins Blickfeld rückt. Dieser wichtige Basler Platz ist heute nicht optimal gestaltet. Wir befassen uns schon seit vierzig Jahren mit diesem Stück Basel und haben begriffen, dass seine heutige Gestalt und Topografie nicht stimmt. Die Barfüsserkirche ist vom Platz wie abgeschnitten, das Tramhäuschen steht am besten Ort, dem eigentlichen Schwerpunkt des Platzes, wo der heute eingedohlte Birsig einst eine Flussaue bildete. Dort sehen wir eine grosse Brunnenanlage wie die Fontana Trevi – ein Anziehungspunkt für Alle. Diese könnte von einem internationalen Künstler gestaltet werden mit Bezug zu Basel, etwa Ai Weiwei oder Mathew Barney, mit denen wir schon mehrfach zusammenarbeiteten. Zusammen mit den Brunnen von Tinguely und Meret Oppenheim entstünde eine Brunnentrilogie. Wir haben für einen solchen Barfüsserplatz schon einige Entwürfe gemacht, die nach dem Wegfallen des Tramhäuschens auch funktionelle und technische Vorteile hat. Zuerst soll aber das renovierte Stadtcasino und das neue Gässlein eröffnen, was dem Platzprojekt erst Auftrieb geben wird.“
«Noch immer wird ab und zu geteert und asphaltiert, den Geruch dieses heissen, zähflüssigen Materials liebe ich noch immer.»
“Eine Mischung aus Chemie und Malz der Bierproduktion“ so beschreibst du im Buch “Aus Basel” die intensiven Gerüche im Kleinbasel rund um den Landhof, die deine Kindeheit mitgeprägt haben. Welche Gerüche sind heute in Basel präsent?
„Die Stadt von heute hat weniger Industrie und weniger Gerüche. Noch immer wird ab und zu geteert und asphaltiert, den Geruch dieses heissen, zähflüssigen Materials liebe ich noch immer. Es hat etwas Archaisches und auch Surreales, dass Strassen mit einer flüssigen Schicht ausgelegt werden wie Teppiche in der Stadt. Aber sonst riecht die Stadt weniger, auch der Rhein. Früher mit Geruchsassoziationen von Chemikalien, Hund, Urin. Heute ein Badegenuss für alle. Basel riecht weniger, oder?“
Ich hab mich dasselbe beim Lesen auch gefragt. In den Sinn kamen mir die Gerüche der Florin-Fabrik in Muttenz, die ich von meinem Bachelorstudium an der FHNW stark in Erinnerung habe. Diese ganz besonderen, intensiven Gerüche der Speiseöl- und Speisefettproduktion.
„Ja gut, aber wie nimmst du es in Basel wahr?“
Auch nicht so stark. Höchstens, wenn die Stadtgärtnerei im Schützenmattpark gerade gedüngt hat…
„… oder hier im St. Johann bei der Tschudimatte, wenn der Rasen frisch gemäht wurde. Das begleitet doch alle, die einst Fussball spielten, dieser intensive Geruch von frisch gemähtem Gras. Oder die blühenden Lindenbäume jeweils im Juni an der Peter Rot-Strasse. Auch die Gerüche der Zirkusarena von Knie auf der Rosental-Anlage. Das prägte sich uns ein, über viele Jahre, die wir dort aufwuchsen.“
Was ist dein persönlicher Lieblingsort in Basel?
„Basel wächst und bewegt sich. Diese vielen Transformationsareale und Infrastrukturprojekte, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten entwickelt werden, sind in unserem speziellen Fokus. Da braucht es das Mitwirken von uns allen, Planern und Bürgerinnen. Ich habe ja in diesem Gespräch bereits erwähnt, dass Pierre und ich uns seit vierzig Jahren in der städtebaulichen Entwicklung von Basel stark engagierten. Auch mit dem Künstler Rémy Zaugg – es entstand die Studie: “Basel, eine Stadt im Werden?” – welche bis heute gültige Überlegungen und Leitbilder anbietet. Wir hoffen nun, dass sich jüngere Architektengenerationen engagieren, um Projekte anzustossen und vorwärts zu bringen. Und nicht bloss darauf warten, bis der Kantonsbaumeister oder ein Privater ihnen einen fertig formulierten Auftrag auf den Tisch legt.“
«Natürlich schauen wir uns unsere Bauten immer wieder mal an. Per Zufall beim Vorbeigehen. Seltener mit Absicht. Etwa, um zu sehen, wie ein Gebäude heute lebt. Wie es altert.»
Und die Orte, die von euren eigenen Projekten mitgeprägt werden?
„Natürlich schauen wir uns unsere Bauten immer wieder mal an. Per Zufall beim Vorbeigehen. Seltener mit Absicht. Etwa, um zu sehen, wie ein Gebäude heute lebt. Wie es altert. Wenn die Dinge funktionieren, ist es gut und man vergisst es wieder. Dann schaut man auf seine eigene Arbeit, als sei sie schon immer da gewesen, oder gar von einem anderen Architekten. Wenn dir aber etwas ins Auge sticht, ist das sehr ärgerlich, weil man das ja nicht ändern kann. Bisher gibt es nicht viele derartige Momente, wo wir nachträglich anders entscheiden würden. Der Architekt hat da eine grosse Verantwortung, besonders bei grossen, sehr sichtbaren Bauten. Der Öffentlichkeit gegenüber. Aber auch sich selbst.“
Im Namen von Architektur Basel bedanke ich mich für das ausführliche Gespräch – merci.
Interview: Lukas Gruntz / Architektur Basel
Teil 1 > Jacques Herzog: «Vielleicht entsteht im nicht-demokratischen Kontext mehr Schönheit»
Teil 2 > Jacques Herzog: „Das Tattoo ist Norm geworden“
Teil 3 > Jacques Herzog: „Interessant wäre, wenn Architekten in ihren Bauten wohnen müssten“