Einwurf von Harry Gugger zur Umnutzung Mittenza: «Architektur muss den Freiraum in Wert setzen»

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In einem lesenswerten Kommentar fasst Architekt Harry Gugger seine Gedanken zum Studienauftrag Mittenza zusammen: «Die Würfel sind gefallen und wir hatten die Sache schon ad acta gelegt. Auch hoffen wir, dass das siegreiche Projekt von Buol & Zünd eine erfolgreiche Entwicklung erfahren, und die gewünschte Belebung der Mittenza mit sich bringen wird. Wieso dann dieser Einwurf?»

Der Artikel von Christina Leibundgut diskutiert, eher zurückhaltend, die Frage nach der notwendigen Eingriffstiefe, um die Mittenza nachhaltig zum Leben erwecken zu können. Dabei verweist sie korrekterweise auf die ursprüngliche Debatte, welche der Eröffnung der Mittenza folgte. Sie schafft somit eine perfekt angelegte Disposition zu einer überzeugenden Architekturkritik. Es bleibt aber leider Vieles im Vagen. Dies im Kontrast zur Klarheit, Tiefe und zum Umfang der Architekturkritik von 1971. Wir kommen später auf diese zurück. Vorab eine Auslegung unserer Überlegungen.

Architektur muss den Freiraum in Wert setzen. Zu oft aber lässt Architektur den Freiraum veröden. Bei der Mittenza mit ihrer architektonischen Selbstgefälligkeit ist genau dies der Fall. Die dörflichen Strukturen nicht respektierend hat die Mittenza ein städtisches Raumkontinuum geschaffen das im Dorfkern von Muttenz fehl am Platz ist und so als Sozialraum von der Bevölkerung nicht angenommen wurde. Dies lässt sich am heutigen Zustand ablesen. Die ursprüngliche Platzsequenz ist erodiert und wird heute von unmotivierten und ungenutzten Rasenflächen und Rabatten verstellt.

Gemeindezentrum Muttenz, Platzgestaltung © werk, bauen + wohnen 002 1971

Gemeindezentrum Muttenz, Rolf Keller Architekten © werk, bauen + wohnen 002 1971

Nicht allein, weil sie ortsfremd ist, wurde die vorgeschlagene Platzsequenz nicht belebt, sondern auch, weil sie von einer selbstverliebten und überinstrumentierten architektonischen Promenade im Gebäude konkurrenziert wird. Das Projekt Mittenza ist also an einem inneren Widerspruch gescheitert. Es inszeniert einen unpassenden städtischen Raum den das Projekt aber gar nicht kultiviert, weil es die gesamte Erschiessung des Gebäudekomplexes verinnerlicht. Das Projekt misstraut seiner eigenen Setzung, indem es eine untypische räumliche Öffnung in die Tiefe schafft aber trotzdem dem traditionellen Muster folgend auf die Hauptstrasse fokussiert.

Der Studienauftrag «Umnutzung Mittenza» hätte die Chance geboten die offensichtlichen Fehler des ursprünglichen Projektes zu korrigieren und den öffentlichen Raum zum Leben zu erwecken. Die Jury hat aber in einer fragwürdigen Wertschätzung des Denkmals diese Chance vertan und in einer absoluten Negierung der kompetent und fundiert vorgetragenen Kritik am ursprünglichen Projekt ihre Verantwortung nicht wahrgenommen.

So wird erwartet, dass man weiterhin durch die unsägliche Kolonnade schreitet die in ihrer unproportionierten und arhythmischen Form diesen Namen gar nicht verdient. Alsdann wird man von einer gekrümmten Lobby umgeleitet, um sogleich mit der Frage konfrontiert zu werden, ob man nun der Rampe folgend nach oben schreiten soll oder vielleicht doch besser ebenerdig zum rückwärtigen Saal finden will.

Heutige Eingangssituation Kongresszentrum

Aktueller Zustand der Kolonnade

Heutiger Blick Richtung Gemeindeverwaltung

Ist man endlich im Saal angekommen, muss man feststellen, dass der mögliche Aussenbezug durch Säulen und eine weder für den Sall noch für den Aussenraum nutzbare Raumschicht verstellt wird. All dies bleibt beim Projekt von Buol & Zünd, entsprechend dem von der Jury geforderten umfassenden Denkmalschutz, unangetastet und so gilt es zu befürchten, dass die Mittenza stadträumlich trotz Neunutzung weiterhin in ihrem sklerotischen Zustand verharren wird.

Die hier geäusserte Kritik wurde schon bei der Eröffnung der Mittenza aus berufenem Munde geäussert. So in einem im Werk 4/1971 abgedruckten Gespräch mit äusserst illustrer Beteiligung (siehe Liste unten) und in einer im Werk 11/1971 publizierten Zuschrift von Alfred Wyss und Peter Zumthor.

Wie bereits erwähnt, ist die Jury in der Vorbereitung und Durchführung des Studienauftrages leider nicht auf diese Kritik eingegangen. Schon die Ausschreibung zum Studienauftrag liess befürchten, dass die Beurteilung der Projekte unter einfältigem Fokus auf das Gebäude erfolgen würde. So waren die Fachplanerleistungen Baumanagement/Bauökonomie, Bau- und Raumakustik, Bauingenieurwesen, Gebäudetechnik (HLKSE) und Brandschutz gefordert aber die Teilnahme eines Landschaftsarchitekten nicht vorgesehen. Man hat das Denkmal also nicht als ein Ganzes von Innen- und Aussenraum bedacht, sondern hat sich auf das Gebäude und sein Funktionieren kapriziert. Es verwundert also nicht, dass das Projekt von Buol & Zünd ohne jegliche Aussagen zur Landschaftsarchitektur gewinnen konnte. Dies, obwohl der bestehende öde Freiraum nur schon dem Klimawandel geschuldet, dringend adaptiert werden muss.

So wurde unser Vorschlag (in Zusammenarbeit mit Maurus Schifferli Landschaftsarchitekten) den zentralen Platz zu einem attraktiven chaussierten Dorfplatz unter schützenden Baumkronen umzugestalten, und hierzu die für das Gedeihen der grosskronigen Bäume notwendige Erdüberdeckung durch eine Erweiterung der bestehenden Geländeterrasse zu realisieren, mit folgender Begründung lakonisch abgetan: «Die Uminterpretation des Platzes (…) ist nicht nachvollziehbar. Erschwerend kommt hinzu, dass eine Aufschüttung statische Verstärkungen des Dachs der darunterliegenden Einstellhalle bedingen.»

Grundriss Erdgeschoss © Harry Gugger Studio

Neuer Eingang zum Saalfoyer © Harry Gugger Studio

Baumbestandene Terrasse am Café © Harry Gugger Studio

Eine solche Kritik ist frustrierend. Insbesondere vor dem Hintergrund der substanziellen und differenzierten Kritik, die bereits nach der Eröffnung der Mittenza geäusserte wurde und die im Rückblick beinahe als Weissagung empfunden werden muss. So hatte zum Beispiel Martin Steinmann argumentiert:

«Es ist Reichlin, Reinhart und mir aufgefallen, daß in den Erklärungen der Architekten von Bauformen, welche vorgefunden wurden, von Dachformen und Materialien die Rede war, aber eigentlich nie von Dorfstruktur, ……. Durch das neue Zentrum und vor allem den Platz wird die Begrenzung der Straßenräume empfindlich gestört, indem plötzlich nicht nur eine Hausbreite diese Begrenzung bildet, sondern eine zusätzliche Raumschicht mit öffentlicher Nutzung, welche als strukturfremdes Element die bestehende Dorfstruktur angreift, …. Das ist ein Eingriff in die Dorfstruktur, was nichts zu tun hat mit Bauformen, sondern mit Gesellschaftsformen, aus welchen dieses Dorf herausgewachsen ist, mit einer klaren Trennung der verschiedenen Bereiche. Es stellt sich die Frage: Was ist wichtiger, die Dorfstruktur oder die Bauformen? Auf die Bauformen wird eingegangen, nicht aber auf die Dorfstruktur.»

Bruno Reichlin machte seinerseits im Gespräch folgende prägnanten Aussagen:

«Wir meinen nicht, daß man Muttenz an diese neue Entwicklung (Umwandlung wertvoller Siedlungsbilder) preisgeben muß. Man gibt es aber preis, wenn man eine Dorfstruktur als Folge neuer, durch die kapitalistische Gesellschaft geschaffener Verhältnisse umfunktioniert und diesen Sachverhalt gleichzeitig verschleiern will, indem man das Problem erstens auf bauliche Merkmale reduziert und diese zweitens aus dem bestehenden Dorfbild übernimmt. ….. Wir sehen eine Zweideutigkeit in der Lösung, die gewählt wurde. Wenn man den Dorfplan anschaut, merkt man sogleich, daß hier etwas passiert, das neu ist. Und dann, wenn man vor dem Bau steht, sieht man, daß das Problem «Bauen im historischen Dorfkern» auf der Ebene der architektonischen Elemente gestellt wurde und nicht auf der Ebene der städtebaulichen Relevanz.»

In der im Werk 11/1971 publizierten Zuschrift von Alfred Wyss und Peter Zumthor finden sich letztlich noch die folgenden Feststellungen:

«Der Ort der Begegnung ist die Gasse, in welcher der ehemalige Platz nur eine Ausweitung bedeutete. Heute ist die öffentliche Zone zu einer zweiten Raumschicht ausgeweitet: ein tiefer Eingriff in die Dorfstruktur, den der Versuch einer formalen Einfügung der Baukörper nicht heilen kann; der Platz am Hauptgelenk bei der Kirche ist verloren. Der neue Raum ist kein Ersatz – er ist im wesentlichen Durchgang und wir vermuten und hoffen für die Zukunft- Kaffeeterrasse.»

Diesen Abschnitt hat bereits Christina Leibundgut in ihrem Artikel zitiert. Die folgenden heftigen Aussagen aber leider nicht bedacht.

«In der Anlage also widerspricht das Gemeindehaus der Dorfstruktur: Die Pflege der Siedlungsstruktur ist aber Voraussetzung jeder Siedlungspflege, jeder Erhaltung eines Dorfkernes. Diese Überlegungen sind nicht Ableitungen aus dem Grundrißplan, sondern sie erfassen das räumliche Erlebnis, und wir schreiben das Unbehagen, das man hier empfindet, dieser Durchbrechung des alten Platzes zur Erweiterung der öffentlichen Zone in eine zweite Schicht, ….. zu. …. Das Gemeindehaus hält sich weder in der Struktur noch in der Bauweise an dieses Maß (der Massstab der bestehenden, gemauerten und geschlossenen Baukörper). Als neues Zentrum im Dorf durchbricht es die Dorfanlage, als strahlungsfähige Architektur bedroht es den überlieferten Baukörper. So müssen wir dieses Beispiel, bei welchem die Architekten voll guten Willens und mit Sorgfalt eine Einfügung versucht haben, als nicht gelungen betrachten.»

Es zeigt sich, dass Christina Leibundgut in ihrem Artikel der Sache nicht entschieden genug auf den Zahn fühlt. So zum Beispiel, wenn sie schreibt: «Die Bevölkerung identifiziert sich mit der Anlage, die der Gemeinde 1983 den Wakkerpreis für seinen Umgang mit dem historischen Dorfkern einbrachte.». Für den Erhalt des Dorfkernes entscheidend war der im Jahr 1965 von der Gemeindeversammlung gutgeheissene Teilzonenplan Ortskern der die rechtlichen Voraussetzungen für die Erhaltung und Belebung des Dorfzentrums und somit die spätere Auszeichnung durch den Wakkerpreis schaffte.

Für die Teilnehmer des Studienauftrags zeigt sich der mangelnde Tiefgang am Umstand, dass der Artikel die Diskussion der einzelnen Beiträge den Projektbeschrieben aus dem Jurybericht überlässt. Wir sind überzeugt, dass Christina Leibundgut zu einem entschiedeneren Urteil gefunden hätte, wenn sie sich den verschiedenen Projekten vertieft gewidmet hätte. Wir meinen aber zu lesen, dass wir uns im Wesen unserer Kritiken einig sind. Nur sehen wir die eventuell notwendige Nachbesserung des Projektes von Buol & Zünd weniger bei Küche, Restaurant oder den Untergeschossen, sondern vielmehr in der Hinwendung zu einer umsichtigen, lebenswerten und klimagerechten Freiraumgestaltung welche die Mittenza endlich im Dorfkern zu verankern mag.

Basel, 7. März. 2023
Harry Gugger für HGS Ltd


Kasten mit den Gesprächsteilnehmern des im Werk 4/1971 abgedruckten Gesprächs vom 9. Januar 1971:

Architekten Rolf Keller und Fritz Schwarz,
Bauverwalter von Muttenz, Max Thalmann,
die Redaktoren des werk, Lucius Burckhardt und Diego Peverelli,
mit den folgenden Fachleuten:
Gilles Barbey SIA, Geneve
Hans-Peter Baur BSA, Basel
Heini Baur BSA, Basel
Wolfgang Behles BSA, Zürich
Othmar Birkner, Architekt und Denkmalpfleger, Oberwil
Werner Blaser, Architekt, Basel
Georg Büchi, stud. arch. ETH-Z
Lukas Dietschy, stud. arch. ETH-Z
Jacques Gubler, Kunsthistoriker, Lausanne
Andreas Herczog, stud. arch. ETH-Z
Prof. Dr. Antonio Hernandez, Kunsthistoriker, TU Stuttgart
Dr. H. R. Heyer, Denkmalpfleger, Liestal
Prof. Dr. Paul Hofer, Kunsthistoriker ETH-Z
Philippe Joye, Architekt, Geneve
Manuel Pauli BSA, Zürich
Hanspeter Rebsamen, Kunsthistoriker, Zürich
Bruno Reichlin, Assistent ETH-Z
Fabio Reinhart, Assistent ETH-Z
Martin Steinmann, Assistent ETH-Z

 

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